April 2021
 Lesen und Hören

Jesmyn Ward – Singt Ihr Lebenden und Ihr Toten, singt. Verlag Antje Kunstmann 2018

Ganz lakonisch blättert Jesmyn Ward in ihrem Südstaaten-Roman auf, was es für einen farbigen Jugendlichen bedeutet, sich mit einem weißen Jugendlichen auf eine Wette einzulassen. Der Schwarze, Given, gewinnt die Tierjagd mit Pfeil und Bogen gegen seinen weißen Kontrahenten mit dem Jagdgewehr. Doch er bezahlt den Sieg mit seinem Tod. „Du verdammter Idiot“, sagte da der Vater zu seinem mordenden Sohn. „Es ist nicht mehr wie früher.“ Ist es aber doch: Die Ermordung durch den Verlierer wird als Jagdunfall abgetan. Schluss aus, keine Diskussion. Auch heute kein ungewöhnlicher Ausgang im Süden der USA für ermordete Nichtweiße, egal, ob durch Hausbesitzer, Polizei oder Büttel.

Jesmyn Ward (*1969) zeigt in ihrem Roman die Auswirkungen der Rassentrennung im 20. Jahrhundert bis in den Familienalltag einer in Mississippi lebenden farbigen Familie. Dafür erhielt sie ihren zweiten National Book Award.

Bereits für ihren Roman Salvage the Bones (Vor dem Sturm) erhielt sie 2011 den National Book Award. Hurrikan Katrina nähert sich dem Mississippi-Delta. Hier leben, ausgegrenzt von der Gesellschaft, Afroamerikaner in ihrem Elend, das ihnen kaum genug zum Überleben lässt. Und dann rast auch noch Hurrikan Katrina auf sie zu. Ward „begleitet“ sie durch die Folgen des Sturms, ohne großes Pathos, „metaphernreich, lyrisch, tröstend“, so das Fazit der FAZ-Rezension vom 13.09.2013.

In Singt, Ihr Lebenden und Ihr Toten, Singt macht sich die farbige Leonie auf, ihren weißen Mann Michael, Sohn eines rassistischen Ex-Sheriffs, aus dem berühmt berüchtigten Parchman-Gefängnis abzuholen. Sie wird begleitet von ihren beiden Kindern Jojo (13 Jahre) und Kayla (3 Jahre) sowie ihrer weißen Freundin Misty. Die neurotische Leonie ist auf Koks. Visionen ihres ermordeten Bruders Given suchen sie heim. Als Mutter ist sie völlig überfordert, gefangen in ihrer fast krankhaften Liebe zu Michael. Ihre Mam, früher viel gefragte Heilerin, Kennerin verschiedenster Kräuter und ihrer Wirkungen, siecht am Krebs dahin. Ihre Versuche, Leonie dieses Heilwissen zu vermitteln, sind gescheitert.

Auch Leonies Vater Pop war auf der Parchman Farm, dem Hochsicherheitsgefängnis des Staates Mississippi gelandet. Unschuldig. Mit 15 Jahren. Hier trifft er auf den 12jährigen Richie, dem Pop seine ganze Aufmerksamkeit, Liebe und Kraft widmet. In zahlreichen kurzen Sequenzen erzählt er Jahre später seinem ungeduldig fragenden Enkel Jojo von Richie. Bald wissen wir, dass Richie nicht mehr lebt. Jojo, der von seiner Großmutter die Gabe des Sehers geerbt hat, wird auf der Reise nach Parchman von Richie’s Geist begleitet. Er wird ihn erst dann in Ruhe lassen, wenn Jojo von Pop erfahren hat, wie Richie zu Tode kam. Und genauso wie Jojo werden wir im Verlaufe des Buches immer unruhiger und warten auf die Antwort, die nur Pop geben kann.

Erst in der Gewissheit des eigenen grausamen Endes kann Richie Ruhe finden. Auf dieser Suche nach Zugehörigkeit, dem eigenen Ort, nach Gewissheit, befinden sich alle, sowohl die Lebenden als auch die Toten. Hier knüpft Jesmyn Ward an die großen Erzähler der afrikanischen Literatur an, an Thomas Mofolo, Chinua Achebe, Mongo Beti, Meja Mwangi, um nur wenige zu nennen. An eine Tradition, in der das „Natürliche“ und das „Übernatürliche“ (seherische Kräfte, Heilkräfte, Naturreligion) in Harmonie, manchmal auch im inneren oder äußeren Kampf zueinander stehen.

Doch zunächst müssen wir die Gruppe auf ihrer langen Reise durch Mississippi und wieder zurück zur Farm begleiten. Kayla stirbt auf dieser Reise fast an Entkräftung. Sie überlebt nur durch die uneingeschränkte Liebe und Fürsorge ihres Bruders. Mit Händen und Füßen verweigert sie sich jedem hilflosen Versuch ihrer Mutter, das Kind an sich zu nehmen und klammert sich an Jojo. Die Ingredienzien dieser wahnwitzigen Reise sind Drogen, Hitze, Durst und Hunger, polizeiliche Gewalt und die dauerhafte Übelkeit von Kayla.

Jojo, um den sich letztlich alles rankt, der als Einziger Kontakt zu allen, den Lebenden und den Toten hat, steht gemeinsam mit Kayla für die Hoffnung auf das Leben und die Zukunft. Auch Kayla steht bereits mit den Toten in Verbindung, allerdings noch nicht so klar zugeordnet wie Jojo. Doch sie ist es, die schließlich vor dem Geisterbaum die Geister der Ermordeten, Gefolterten und Vergewaltigten sieht.

Geht nach Hause, sagt sie. Die Geister schaudern, gehen aber nicht weg. … Also fängt Kayla an zu singen … Kayla singt, und die Menge der Geister beugt sich vor und nickt. Sie lächeln, und darin ist so etwas wie Erleichterung, so etwas wie Erinnerung, so etwas wie Entspannung. … Nach Hause, sagen sie. Nach Hause.

Und ich höre Rhiannon Giddens

They’re Calling Me Home

An old friend lay on his dying bed
Held my hand to his bony breast
And he whispered low as I bent my head
„Oh, they’re calling me home
They’re calling me home“

My time has come to sail away
I know you’d love for me to stay
But I miss my friends of yesterday
Oh, they’re calling me home
They’re calling me home

I know you’ll remember me when I’m gone
Remember my stories, remember my songs
I’ll leave them on Earth, sweet traces of gold
Oh, they’re calling me home
They’re calling me home

So, friends, gather ‚round and bid me goodbye
My body’s bound but my soul will fly
My little light shinin‘ from the sky
Oh, they’re calling me home
They’re calling me home

My time has come to sail away
I know you’d love for me to stay
But I miss my friends of yesterday
Oh, they’re calling me home
They’re calling me home

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Rhiannon Giddens

*1977, US-Amerikanerin mit zweitem Wohnsitz in Irland, aufgewachsen in einer durch und durch musikalischen Familie; gerät nach dem Studium des klassischen Gesangs und einiger Opernauftritte unter die Fittiche des über 80jährigen Fiddlers Joe Thompson, der ihr Lehrer und Mentor wird. Bei der Mitarbeit am Soundtrack der „Hungerspiele“ lernt sie den berühmten Produzenten T-Bone Burnett kennen, der ihre Solokarriere maßgeblich fördert. Für ihn gehört Rhiannon Giddens „in eine Reihe mit Marian Andersen, Ethel Waters, Rosetta Sharp, Odetta, Mahalia Jackson … (und) Nina Simone“.

Ihre Liebe zur irischen, gälischen und keltischen Tradition entdeckt Rhiannon durch ihren Mann, den irischen Musiker Michael Laffan.

Ihre ersten Jahre nach dem Studium des klassischen Gesangs, das sie auch zu Auftritten als Opernsängerin führt, widmet sie sich der „Old-Time Music“, einem Vorläufer der Country Music. „Genuine Negro Jig“ veröffentlicht sie 2010 unter dem Namen Carolina Chocolate Drops und erhält direkt einen Grammy. 2015 erscheint ihr Album „Tomorrow Is My Turn“, ausschließlich mit Stücken, die von Frauen geschrieben wurden.

They’re Calling Me Home (2021)
There Is No Other (2019)

Giddens mit Fiddle und Banjo, dem ersten „truly american“ Instrument, das zunächst nur von Schwarzen gespielt wurde, und der Multiinstrumentalist Francesco Turrisi zeigen die Universalität von Musik, verweben amerikanische Klänge mit ihren Ursprüngen aus der afrikanischen und arabischen Welt.

Songs Of Our Native Daughters (2019)

Zur Entstehung von Songs Of Our Native Daughters findet sich eine sehr gute Information auf Wikipedia.

Zum Reinhören

Carolina Chocolate Drops: Why don’t you do right

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Rhiannon Giddens: Calling me home

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Rhiannon Giddens: Slave Driver

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Rhiannon Giddens: 10.000 Voices (erstes Stück des Live-Konzerts „Met Art“ Herbst 2019

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Siehe auch Colson Whitehead – Underground Railroad