Januar 2021
 Lesen und Hören

Jean Cocteau: Thomas der Schwindler. Manesse Verlag, 2018

Jean Cocteau schrieb den Schelmenroman „Thomas der Schwindler“ 1923. Was macht ihn, fast 100 Jahre nach Erscheinen für uns noch lesenswert, ja aus meiner Sicht ganz aktuell? Die Antwort liefert uns Cocteau im Buch:

Es gibt Leute, die alles besitzen und es niemandem glaubhaft machen können … An manchen Frauen werden die schönsten Perlen unecht. An anderen dagegen wirken falsche Perlen echt. Desgleichen gibt es Männer, die blindes Vertrauen erwecken und Privilegien genießen, die ihnen eigentlich nicht zustehen. Zu dieser glücklichen Gattung gehörte Guillaume Thomas.

In den blutigen Gewaltorgien des Ersten Weltkrieges gibt sich Thomas kurzerhand als Neffe eines berühmten französischen Generals aus, macht sich älter als das 16jährige Waisenkind tatsächlich ist. Stück für Stück identifiziert er sich mit seiner aus Lügen gesponnenen Rolle und findet darin sein wahres Ich.

Cocteau (1889 – 1963), dieser Allround-Künstler des 20. Jahrhunderts, der Poet, Literat, Maler, Filmemacher, der nur einen Tag nach dem Tod seiner engen Freundin Edith Piaf selber verstarb, zeichnet mit Thomas auch ein Stück von sich selbst. Iris Radisch schreibt in ihrem sehr lesenswerten Nachwort:

„Die große Sünde war in seinen Augen nicht die Lüge, sondern die Stillosigkeit. … Darin blieb er ein Nachfahre der französischen Aristokraten, denen Esprit alles bedeutete. Aufrichtigkeit und Natürlichkeit überließen sie ihren Dienstboten.“  Sie schließt mit den sehr nachdenklichen Worten: „Thomas der Schwindler ist ein Höhepunkt einer sich mit den Mitteln des Esprits und des Spiels gegen den dumpfen Ernst des 20. Jahrhunderts auflehnenden Avantgarde.“

Blicken wir aus dem 21. Jahrhundert zurück in das vergangene, wie sehen dann die jeweiligen Bilanzen aus? Radisch’s Antwort sei hier nicht verraten.

Die Neuübersetzung durch Claudia Kalscheuer trifft genau den überdrehten Stakkato-Originalton des Werkes mit seinen genauso überdrehten Bildern.

Hören

Eric Satie

Jean-Yves Thibaudet: Eric Satie. The Complete Solo Piano Music

Auch Eric Satie war ein Multitalent. Er komponierte von der leichten Muse bis zum Ballett und zum Orchesterwerk, trat mit Solokonzerten am Klavier auf und übte sich in der bildenden Kunst. Die künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, Picasso, Man Ray, Debussy und vor allem Cocteau, wurden seine Heimat. Seine Spielanleitungen durchziehen dadaistische und surrealistische Fäden, ohne seine Eigenartigkeit zu überdecken. Für das kubistische Ballett „Parade“ schrieb er die Musik.

Vienna Art Orchestra und Willem Breuker Kollektief

1977 gründen drei verrückte Österreicher, Mathias Rüegg, Wolfgang Puschnig und Woody Schabata, in Wien das Vienna Art Orchestra. Einige Jahre prägen Aktionismus, Improvisation und der Spaß am Verrückten das Orchester, vergleichbar etwa mit dem ebenso ausgedrehten Willem Breuker Kollektief aus Holland (1974 – 2012), das ich immer wieder gerne im Amsterdamer Bimhuis erleben konnte. Beide Gruppen waren auch wiederholt Ende der 1970er (Breuker) und in den 1980er Jahren (Vienna) auf dem Moerser Pfingstfest zu sehen und zu hören. Eine zweite Parallele zwischen den beiden „Chefs“, Rüegg und Breuker: beide widmen sich im Laufe der Jahre mehr und mehr komplexen Kompositionen und Arrangements, integrieren auch Klassik und Chanson.

1987 entstand beim Konzert des Vienna Art Orchestra in Moers die wunderbare Live-Platte Insight Out, Live, 1987. Bereits der 10minütige Start „The opener is bizarre“ weist auf das, was dann kommt. Später wurden es dann auch komplexe Werke, z. B. die Suite For The Green Eighties. Während ich das Buch las, hörte ich The Minimalism of Eric Satie

Vom Willem Breuker Kollektief finde ich die Trilogie Hunger – Thirst – Misery aus den Jahren von 1999 bis 2002 besonders beeindruckend. Unterstützt durch den Gesang von Loes Luca (Hunger) und Denise Jannah (Thirst), häufige Solistinnen des Kollektiefs, finden sich exzellente Interpretationen von Rossini, JOhn Roger Thomas, Hoagy Carmichael, Ravel, Ornette Coleman und selbstverständlich viel Virtuoses aus der eigenen Feder.

Thelonious Monk (1917 – 1982)

Gerne höre ich zu dieser leicht verrückten Prosa auch Thelonious Monk (1917 – 1982). Bereits seine Jazz-Kompositionen aus den 40er Jahren sind heute längst Klassiker, waren aber lange Zeit zu wenig eingängig. In den Anmerkungen zu seinem begeisternden „Monk in Tokyo“-Auftritt von 1963 heißt es: „In 1962, his unique music, so long seen as forboding, exxentric, or just plain wrong, was at last receiving the wide scale distribution it clearly deserved.“ Und dann spielt Monk mit seinem Quartett, „as if his instrument had been set on fire“. (Peter Keepnews).

Thelonious Monk with John Coltrane (1957) und Monk in Tokyo (1963)

Zum Reinhören

In der blauen Stunde: Eric Satie. Gnossienne No 1

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Und wenn es wild sein soll:

Vienna Art Orchestra – The Minimalism of Eric Satie

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Thelonious Monk: Blue Monk

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