James Ellroy. Jener Sturm. Ullstein 2019
7. Dezember 1941. Ein Tag reicht, und die Zeit des Floretts, die Zeit der US-Warnung an Japan, nicht in Französisch-Indochina einzumarschieren, ist vorbei. Ein Tag reicht, und auch die Zeit des Säbels ist vorbei, die Zeit des vollständigen US-Öl-Embargos nach der Besetzung Französisch-Indochinas durch japanische Truppen. Ein Tag reicht, und das Unglaubliche passiert: die japanische Marineluftwaffe greift überraschend in Pearl Harbor an, ohne vorherige Kriegserklärung. Was für eine Beleidigung. Wie können die „Japsen“ es wagen! Dieser „Day of Infamy“ verändert mit einem Schlag die Stimmung in den USA. Da ist es fast „Nebensache“, dass vier Tage später Hitler-Deutschland den USA den Krieg erklärt. Die Volksseele kocht.
Seitdem pflügen „Bulldozer“ durch das Land. Sie pflügen in „Jener Sturm“, dem zweiten Band des zweiten L.A. Quartetts von James Ellroy, durch L.A. und durch Ensenada.
Hideo Ashida, hat Glück. Er arbeitet im Los Angeles Police Department, ist als akribischer Kriminaltechniker und Übersetzer unabkömmlich. Zudem bewährt er sich im Strudel der Gewalt gegen „Japsen“, „Neger“, „Mexen“ und andere Feinde als genauso skrupellos wie seine Kollegen.
Silvesternacht 1941. Riesenparty. Die rothaarige Joan, frischgebackener Leutnant der US-Marinereserve, macht sich auf. Alkoholbenebelt. Scheißegal. Verdunklungsbefehl zwingt zu Abblendlicht. Scheißegal. Die Himmelsschleusen meilenweit offen. Scheißegal. Sie rast durch die Landschaft. Ganz die älteste Tochter ihres Vaters, der bei einem Waldbrand ums Leben kam. Dessen Tod ihr, der gelernten Diplomkrankenschwester, keine Ruhe lässt. Crash. Vier Tote Mexikaner und ein Geheimnis. Joan überlebt. Kann sich weiter um den Tod ihres Vaters kümmern.
Nächster Strang: Ein Sarg mit einer längst verwesten Leiche. Dort, wo der Brand tobte. Dort, wo der Bruder von Sergeant Elmer Jackson zu Tode kam. Ermordet. Ist es Elmers Bruder?
Nächster Strang: Zufällig tritt ein Jahre zurückliegender Raub, bei dem eine riesige Goldmenge verschwand, wieder an die Oberfläche. Freund und Feind versuchen, den Schatz aufzuspüren. Der psychotische L.A. Police Sergeant Dudley Smith mit seinen Verbündeten gegen seinen verhassten Police-Kollegen Elmer Jackson. Verratene und Enttäuschte wechseln von Smith zu Jackson. Doch auch diese Männer und Frauen spielen ihr eigenes Spiel. Die Kommunikation zwischen den Gegnern erfolgt ausschließlich brutal.
Nächster Strang: Nazis und Kommunisten schmieden, wie in einer Fortsetzung des Hitler-Stalin-Paktes, eine Verschwörung. Im „Hass auf den demokratischen Westen brüderlich vereint“, wollen sie für die Zeit nach dem Weltenbrand den totalitären Gedanken retten. Mit unendlichen Reichtümern für sich selber.
Was gehört wie zusammen? Ellroy mixt die Stränge zu einem wilden Knäuel, garniert das Ganze mit einer gewaltigen Zahl realer und fiktiver Personen, springt zwischen L. A. und Mexiko hin und her und zwingt den Leser, das Buch nicht für längere Zeit aus der Hand zu legen, sofern er den Überblick behalten will.
Die historisch realen Personen werden zum Spielball der Obsessionen des Autors. Orson Welles wird von Smith brutal zusammengeschlagen und muss ihm künftig als Spitzel dienen. Otto Klemperer, der weltberühmte Dirigent, erschlägt einen Mann, der ihn beleidigt. Oder glaubt er das nur? Kurt Weill hat eine Beziehung zu George Cukos, Bert Brecht treibt es mit Leni Riefenstahl. Duke Ellington zeugt „Kate Hepburns gemischtrassisches Kind der Liebe“, Tallulah Bankhead vergnügt sich „in Lesben-Hotspots“- alles reale Personen, aber in aberwitzigen Konstruktionen. „Tote können mich nicht verklagen“, sagt Ellroy.
Frauen spielen ihr eigenes Spiel, verführen Männer und Frauen, mixen im Spiel der Brutalitäten mit, spionieren, intrigieren und töten. Für Liebe bleibt kein Platz. Immerhin schafft Kay Lake mit ihrem Tagebuch und dem von Joan hinterlassenen einen gewissen „Ruhepol“ in dieser Kakophonie, der uns in der Spur hält.
Jener Sturm wütet in der kurzen Zeit zwischen Dezember 1941 und April 1942 über L.A. und Baja California, die an Kalifornien angrenzende mexikanische Halbinsel. Ellroy haut uns in 134 kurzen Kapiteln seine Sätze im Stakkato um die Ohren, wirbelt fiktive und reale Personen durcheinander. Seine Protagonisten schmieden und zerstören Allianzen, waten im Blut der Gemeuchelten – „aber erst nach dem Geständnis“, so die Regel der Polizeiverhöre -, und das alles in einem wahnsinnigen Gemisch aus Macht, Gier nach Gold, Sex, Drogen, Alkohol und Gewalt. Jede und jeder hat Dreck am Stecken. Die Guten sind tot oder leben jenseits des Sturms.
Die Gunst der Stunde und der Kriegshysterie bieten den Skrupellosen einmalige Gelegenheiten diesseits und jenseits der US-mexikanischen Grenze: internierte Japaner werden zu billigen Sklaven. Ihr Hab und Gut türmt sich in den Hallen der Diebe. Mexikanische Landarbeiter werden an US-Farmer verschachert. Explodierende Gewinne im Drogen- und Waffenhandel. Abkommandierte US-amerikanische und mexikanische Staatspolizei, Soldaten, Politiker, Richter und Kontrolleure sichern das lukrative Geschäft. Wer nicht mitspielt, wird mit heimlichen Sexaufnahmen oder mit brachialer Gewalt eingefangen. Wer auch dann nicht mitspielt, wird fortgespült. Nachsicht gibt es nicht.
James Ellroy ist der Star des Krimi Noir. Mit seinen preisgekrönten Werken aus den 1990er Jahren, „Die Schwarze Dahlie“, „Blutschatten“, „Stadt der Teufel“ und „White Jazz“ hatte er das Los Angeles der ausgehenden 40er und der 50er Jahre in all seiner Verkommenheit vor uns entblättert. Diesem ersten L.A. Quartett folgt fünf Jahre später der erste Band des zweiten L.A. Quartetts: Perfidia. Hier finden sich bereits die wesentlichen Charaktere, die den Leser durch die folgenden Bände begleiten werden, darunter auch Ashida.
In „Jener Sturm“ hat Ellroy den Bogen des „realen“ Wahnsinns überspannt, verliert er sich in zu vielen Episoden, springt zu häufig auf Nebengleise und plustert den Roman unnötig auf. Über sich selber sagt er im Interview:
In den 70ern war ich ein Mann, der trank, Drogen nahm und rumhurte. Sie (meine Mutter) war eine Frau, die das gleiche in den 50ern machte. Ich hatte merkwürdige sexuelle Neigungen. Sie nicht. Ich war in einem alarmierenden gesundheitlichen Zustand, was mich dazu antrieb, wieder solide zu werden. Auch sie hätte so einen Wandel in ihrem Leben vollziehen können, wäre sie nicht dem Scheißkerl begegnet, der sie getötet hat.
(James Ellroy. Ein langer Weg nach Kansas City. C. J. Schmidt, kaliber38.de, 2004. http://www.kaliber38.de/autoren/ellroy/ellroy.htm#14)
Erwähnungen im Buch zum Reinhören
Nachfolgend will ich nur auf Musikerinnen, Musiker und Titel verweisen, die im Roman Erwähnung finden mit einer Ausnahme:
Am 19. Februar 1942 unterzeichnete Präsident Franklin D. Roosevelt die Executive Order 9066, auf deren Grundlage große Teile der Pazifik-Anrainerstaaten zum Sperrgebiet erklärt wurden. Alle Bewohner Kaliforniens, des westlichen Oregons und Washingtons sowie eines kleinen Streifens im Süden Arizonas und Alaskas mit japanischen Vorfahren wurden durch die War Relocation Authority (Kriegs-Umsiedelungs-Behörde) in Internierungslager östlich der Pazifik-Region eingewiesen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Internierung_japanischst%C3%A4mmiger_Amerikaner
Theo Bleckmann
Über diese Executive Order haben Theo Bleckmann & The Westerlies auf ihrer aktuellen Platte This Land (2021) ein Stück aufgenommen: „Looking Out“.
Bleckmann, dieser faszinierende Klangimprovisator, hat mit dem Bläserquartett The Westerlies (Trompete und Posaune) wieder ein musikalisch und textlich beeindruckendes Programm aufgenommen, das „alternates between stirring protest songs and soothing palliatives.“ (down beat, 2021/02). Ich kann nur sagen: Wer Ohren hat, der höre.
Abteilung Jazz
Ein zentraler Ort des Romans, ist das Klubhaus, die Kaschemme an der 46. Straße. „Sie stellt etwas dar, was man gleichermaßen als Fickbude, Dreckloch, Jamsession-Studio und als Rückzugsort für Schläger, Schutzgelderpresser und Nazifreunde bezeichnen kann – wo jedoch coole Neger, schwarze Jazzmusiker, Mexikaner, Mexen-Mohren und biedere Bullen genauso willkommen sind“ berichtet der psychopathische Herumtreiber Miciak im Verhör, nachdem er durch zwei LAPD-Sergeants mit Telefonbüchern zusammengeschlagen wurde. Und das Klubhaus ist der Ort für viele Jazzgrößen.
Für „Neulinge“ dieser Musik empfehlen sich als Überblick in der Regel „Best of“ Platten. Hier nur einige Hinweise zum Reinhören mit Aufnahmen aus den frühen 40er Jahren:
Lena Horne (1917 – 2010)
afroamerikanische Sängerin und Schauspielerin, auch mit europäischen und indianischen Vorfahren. Sie war die erste Afroamerikanerin, die einen Langzeitvertrag mit einem großen Hollywoodstudio (MGM) erhielt. Aktive Bürgerrechtlerin, die nach 1945 in den USA als kommunistische Sympathisantin „verfemt“ war.
Out of Nowhere, mit Teddy Wilson, 1941:
Stormy Weather, Titelsong aus dem gleichnamigen Film, 1943:
Count Basie (1904 – 1984)
seine Big Band gehörte zusammen mit den Orchestern von Duke Ellington, Woody Herman, Lionel Hampton und Benny Goodman zu den „Kings of Swing“. Mit Eintritt der USA in den Krieg am 11. Dez. 1941 verloren die Big Bands etliche langjährige Mitglieder. Darüber hinaus litten sie finanziell unter dem „recording ban“, den die US-amerikanische Musikergewerkschaft 1942 gegen die Musikindustrie ausrief, um einen Mindestlohn zu erkämpfen. Der Streik dauerte bis 1944.
Harvard Blues, mit Jimmy Rushing voc., 1941:
Rusty Dusty Blues, mit Jimmy Rushing vocals, 1943:
Dexter Gordon (1923 – 1990)
seine Karriere begann bereits mit 17 Jahren in der Band von Lionel Hampton, wo er bis 1942 blieb. Danach kurze Stationen bei Fletcher Henderson und Louis Armstrong. 1943 erste Aufnahmen unter eigenem Namen. 1944 gings von Los Angeles nach New York, wo er sich mit Wardell Grey, der auch im Roman genannt wird, und Gene Ammons Saxofon-Duelle liefert. In den 50er Jahren fiel er wegen extremer Drogenprobleme fast vollständig aus. Dexter Gordon hat wesentlichen Anteil an der Weiterentwicklung des Bebop zum Hardbop.
In The Bag, 1942 im Orch. von Lionel Hampton:
I’ve Found A New Baby, 1943:
Sweet Lorraine, 1943:
Charlie Parker (1920 – 1955)
einer der einflussreichsten Musiker in der Geschichte des Jazz und wesentlicher Schöpfer und Vertreter des Bebop. Bereits seit seiner Jugend war Parker heroinsüchtig. Nicht selten verlangte er vor einem Auftritt extrem scharfes Essen und eine Flasche Tequila. Auftritte wurden zu Sternstunden oder endeten vorzeitig im Chaos und Spielabbruch.
Swingmatism, 1941, Jay McShann Orch. ft. Charlie Parker:
Body And Soul, 1942:
Cherokee, 1942:
Stan Kenton (1911 – 1979)
nicht nur Jazz-Pianist, sondern auch Komponist, Orchesterleiter, Musikpädagoge. Zunächst vom Swing beeinflusst, entwickelte er sich immer mehr zum Experimentator mit Großformationen (tlw. mehr als 50 Spieler), zeitweise mehr symphonisch orientiert, dann wieder ganz am Jazz. Kenton führte Big Bands aus dem „Korsett“ des Swing in moderne Gefilde bis Richtung „Third Stream“, der seit Anfang der 50er Jahre europäische neue Klassik und modernen Jazz verbindet.
Jammin‘ In The Panoram, 1942:
Artistry In Rhythm, 1943:
Tommy Dorsey (1905 – 1956)
Mitte der 30er gründete er sein eigenes Orchester, das eine Mischung aus Tanzmusik und Jazz spielte. Es wurde zu einem der Gefragtesten in der Ära der Big Bands. Der „Sentimental Gentleman of Swing“ mit dem unverwechselbaren Posaunenspiel, dessen Erkennungsmelodie „I’m Getting Sentimental Over You“ auch heute noch zum Standard der Jazzausbildung an der Posaune gehört, leitete in dieser Zeit auch eine Dixieland Band. Mit seinem Bruder Jimmy firmierten sie unter „The Fabulous Dorsey Brothers“. 1956 erstickte Tommy im Schlaf nach der Einnahme von Schlaftabletten mit Mengen an Alkohol.
Song Of India, 1937:
I’m Getting Sentimental Over You, 1940:
Abteilung Klassik
Otto Klemperer (1885 – 1973)
Dirigent und – weniger bekannt – Komponist, ist die zentrale Figur der klassischen Musik im Roman. In seiner Villa treffen sich Links und Rechts, Ganoven und Bullen; doch wo liegt noch der Unterschied? Und selbstverständlich Künstler und Kunstliebhaber. Er selber, gezeichnet durch einen Gehirntumor, der 1939 entfernt wurde und seine bipolare Störung, lädt sich Gäste, die in seinem Haus Beethoven genauso darbieten, wie auch die Dissonanzen von Hindemith.
Klemperer dirigiert an der 1927 eröffneten Krolloper in Berlin alles, was es an spannender zeitgenössischer Musik gibt. Schönberg und Krenek, Strawinsky und Janácek und selbstverständlich Hindemith, darunter zahlreiche epochale Uraufführungen. Doch bereits 1931 wird diese „Brutstätte scheußlicher Musik“ wieder geschlossen. 1933 belegen die Nazis den „Kulturbolschewisten“ mit Auftrittsverbot in Deutschland. Seiner Neugier und Entdeckungslust, die ihn mitten in den kulturellen Aufschwung der Weimarer Republik getrieben hat, wird in kurzer Zeit der Raum geraubt. Klemperer emigriert in die USA. Dort dirigiert er vor allem Beethoven, Brahms und Mahler, bevor er 1947 nach Europa zurückkehrt.
Brahms Sinfonie Nr. 3, 1957
Hindemith Nobilissima Visione, 1954
Busch String Quartett
Beethoven String Quartet n°14, op 131; Busch String Quartet 1936:
Das Busch-Quartett zählte zu den bedeutendsten und einflussreichsten Quartettvereinigungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Quartett wurde für zahlreiche Musikerinnen und Musiker der ganzen Welt stilbildend.
Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975)
Schostakowitsch, der selber einige Wochen nach Beginn der deutschen Belagerung mit seiner Familie aus Leningrad fortgebracht wurde, widmete die 7. Symphonie „unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad.“ Am 09. August 1942 fand die Uraufführung in der Hölle von Leningrad statt. Karl Eliasberg dirigierte eine Rumpfgruppe völlig erschöpfter Musiker. Lautsprecher übertrugen die Musik, die für einige Minuten den Terror übertrumpfte.
Schostakowitsch 7. Symphonie (Leningrader); Valery Gergiev, Orch. Mariinsky Theatre 2013
Diese Symphonie wollte Klemperer angeblich aus Russland in die USA schmuggeln.
Nicoló Paganini (1782 – 1840) und Sascha Heifetz (1901 – 1987)
Nicoló Paganini (1782 – 1840) hatte das traditionelle Violinspiel gelernt, konzentrierte sich aber nach und nach immer mehr auf die besonders schwierigen Elemente der tradierten Spielweise. In seinen 1820 veröffentlichten 24 Capricci, die Paganini als Studierstücke für „Artisti“ geschrieben hatte, zeigen sich diese besonderen Anforderungen. Extreme Geschwindigkeiten und das Ausnutzen der gesamten Bandbreite der Dynamik ließen die Menschen nicht nur seiner Zeit staunen; sie machen die Stücke des „Teufelsgeigers“ auch heute zu den meist gespielten.
Sascha Heifetz (1901 – 1987) gehört zu den bekanntesten Violinisten des 20. Jahrhunderts. Technische Beherrschung der Violine und Präzision seines Spiels sowie die auch Paganini eigene strenge Körperhaltung wurden zum „Markenzeichen“ von Heifetz.
Paganini, Caprice #24; Sascha Heifetz, vln., ca. 1940: