Juli 2016
 Lyrik

Entschädigung I

Als frühes Nachkriegskind hat mich schon seit der Jugend unsere jüngere Geschichte interessiert. Was haben wir aus der Nazivergangenheit gelernt? Wie sind wir mit den Opfern der Nazis umgegangen? Wie gehen wir heute noch mit ihnen um?

Das Auswärtige Amt schrieb dazu 2014:

Der moralischen und finanziellen Wiedergutmachung des vom NS-Regime verübten Unrechts hat die Bundesregierung von Anfang an eine besondere Priorität eingeräumt. Auch heute noch stellt sie sich dieser Aufgabe. Deutsche historische Verantwortung

Entschädigung I

Mehr als 50 Jahre Zeit vergeudet,
auf den Tod der Gedemütigten,
der noch immer Leidenden gewartet.
Gehofft auf das Vergessen bei Angehörigen,
auf die Angst der Gequälten, sich zu melden.

Millionen, aus ihrer Heimat
zur Sklavenarbeit verschleppt,
freundlich Zivilarbeiter oder Fremdarbeiter genannt.
Frondienst in deutschen Unternehmen,
in Industrie und Landwirtschaft.
Gezwungen, deutsche Kinder zu betreuen,
nicht aber, sofern Jüdin.
Die lieber zum KZ-Bau gepresst,
anschließend dort ermordet.

In Nürnberg verglichen mit „den schwärzesten Zeiten der Sklavenarbeit“.
In der deutschen Gesellschaft dagegen Schweigen,
vor allem bei Politik, Justiz und Industrie.

Nicht aus Scham über das eigene Tun nehmen sie den Deckmantel des Vergessens in die gestern noch niederringende Faust,
damit niemandes Wort gehört werde,
selbst von den Wenigen,
die nach Leid und Qual noch Kraft und Mut zum Aufbegehren besitzen könnten.

Zeit schinden hieß die Devise,
auch in den seltenen Privatklagen gegen IG Farben und Co.
Auch diese Unternehmen seien doch
fremdbestimmt durch die Nazis, Opfer dieser Zeit,
ohne eigene Entscheidungsfreiheit.

Doch dann der Druck von jenseits des Atlantiks,
von den Sammelklagen aus Europa vor amerikanischen Gerichten
gegen deutsche Unternehmen,
gegen Siemens, Krupp, VW, und andere.

Ein Druck, den die heimische Justiz
50 Jahre lang verhindert hatte
im Namen der Demokratie,
im Namen der Wirtschaft,
im Namen der Wiedergutmachung.

Schweißnasse Stirne,
feuchte Hände.
Viel Geld drohte verloren zu gehen,
das Jahrzehnte zuvor hart erarbeitet worden war –
mit den Händen der Zwangsarbeiter,
von denen die meisten tot,
einige aber noch immer lebten und nun aufbegehrten.
Nicht mehr die Stirn in den Staub geneigt,
wie über Jahre gewohnt,
mit dem Tode bestraft bei Missachtung.
Nun nicht mehr nach Belieben zu malträtieren.

Erleichterung.
Erfreut über die Gründung einer Stiftung –
50 Jahre zu spät.
Erleichterung beim Staat und bei der Wirtschaft,
die auch das vereinbarte Almosen an die Gequälten noch als Großmut und Großherzigkeit der Quäler verkauft, die ihr Eingespartes in neue Geschäfte, auch in Waffen und in neue Kriege stecken kann.

Denn was sind schon die 12 Millionen aus ihrer Heimat verschleppten Zwangsarbeiter der Nazis,
die mit ihrer Kraft,
mit ihrer Gesundheit,
mit ihrem Leben
Milliarden in die Taschen der Verbrecher gescheffelt haben?
Was sind sie
im Zeitalter des Verdrängens,
im Zeitalter des Vergessens,
im Zeitalter des nahtlosen Übergangs von Vergangenheit in Gegenwart?
Ist das „deutsche historische Verantwortung?“

Anmerkung

2000: Gründung der „Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“.

Die Bundesregierung gibt die Zahl der aus ihrer Heimat verschleppten Zwangsarbeiter mit 12 Millionen an. Die Abermillionen Menschen, die in ihrer Heimat zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, darunter nach vorsichtigen Schätzungen allein mind. 22 Millionen Menschen in der Sowjetunion, interessieren nicht.

Nur Betroffene, die durch Dokumente oder Zeugen ihre Berechtigung nachweisen können, kommen in den Kreis der „Entschädigten“ und erhalten nach §11 des Stiftungsgesetzes Entschädigung. Dass viele Betroffene nach so vielen Jahren keine Zeugen mehr benennen können, die Erinnerung zum Teil trügt, Dokumente gar nicht erst existierten, den Krieg nicht überstanden oder später verloren gingen – all das ist Teil des Kalküls gegen die Betroffenen. Die Höhe der Entschädigung:

Der Fonds umfasste 4,4 Mrd. EUR. Ausgezahlt wurden an 1.665.000 Betroffene im Durchschnitt 2.642,64 EUR pro Person.

siehe auch Entschädigung II