Colson Whitehead – Underground Railroad, Hanser Verlag 2017
Wie illusionistisch zu glauben, die USA hätten das, was Whitehead in Underground Railroad aus der Zeit der Sklaverei im Süden erzählt, im 21. Jahrhundert überwunden. Zehntausende Demonstranten gehen in den USA auf die Straße und rufen „Black Lives Matter“; denn was unterscheidet z. B. den Mob von Charlottesville in Virginia von den Lynchmobs des 19. und 20. Jahrhunderts? Und wie viele Polizisten werden nicht verurteilt, obwohl sie unbewaffnete Farbige wie Tiere abschießen? Skandalöse Zustände. Das Schlagwort von „The New Jim Crow“, der fortgesetzten Rassentrennung, trifft die Situation und verweist auf die Jim-Crow-Gesetze der Rassentrennung seit 1877. Erst 1964 wurden sie formal abgeschafft. Aber was heißt das schon.
Colson Whitehead‘s Roman spielt zur Zeit der Sklaverei und des Flüchtlingsnetzwerks „Underground Railroad“. Das Netzwerk wurde 1780 gegründet und bestand bis 1862. Es ermöglichte mehr als 100.000 Sklaven die Flucht aus dem Süden in den Norden der USA und nach Kanada.
Ein bedrückender Roman, eines schwarz-amerikanischen Autors, der wohl niemanden unbeeindruckt lässt. Völlig zu Recht wurde Whitehead (*1969) mit dem National Book Award ausgezeichnet.
Lange Zeit sträubt sich die Sklavin Cora gegen die Verlockungen und Gefahren einer Flucht von der Farm des brutalen Terrance Randall. Der vergewaltigt, foltert und mordet nach Lust und Laune. Aber nicht nur körperliche Gewalt hindert die Sklaven an der Flucht; auch die von Randall eingesetzte Hexe bindet die an Voodoo und Hexerei glaubenden Sklaven mit ihrem Zauber.
Coras Mutter war es bislang als einziger gelungen, erfolgreich zu fliehen und damit den Sklavenjäger Ridgeway zur Weißglut zu treiben. Er wird sich später wie ein Bluthund an Coras Fersen heften, um diese Schmach wett zu machen, und er wird Angst und Schrecken verbreiten.
Neid, Missgunst und Habgier gibt es auch unter den Sklaven. Als Gegenleistung für Sex sorgt der Sklave Moses, der während der Abwesenheit des Eigentümers die Sklaven beaufsichtigt, dafür, dass Cora ihre kleine Parzelle, auf der sie Gemüse anbaut, an die verschlagene Sklavin Ava verliert.
Nun dringen die Fluchtgedanken des Sklaven Cäsar in ihren Kopf und ihr Herz. Er erzählt ihr von der Underground Railroad, dem unterirdischen Eisenbahnsystem mit seinen zahlreichen Helfern. Auf diesem Weg könne sie aus dem Süden in einen sicheren Bundesstaat entkommen. Und sie begibt sich tatsächlich zusammen mit Cäsar auf diese gefährliche Reise.
Geschickt nutzt Whitehead dieses Netzwerk aus Gegnern der Sklaverei, um die abenteuerliche Flucht in eine fiktive Underground Railroad zu verlegen. Er wurde dafür zurecht mit dem Science Fiction Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet.
Whitehead‘s sog. „magischer Realismus“ raubt den Atem, lässt keinen Platz für Sklavenromantik, zeigt uns aber auch die Angst der Weißen: Was wird mit uns passieren, wenn wir Sklaven freilassen? Werden sie nicht Gleiches mit Gleichem vergelten? Und müssen wir daher nicht mit allen Mitteln verhindern, dass sich Sklaven aus unserer „Obhut“ lösen?
Im Interview sagt Whitehead: Jeder wird von diesem System versklavt, ob es nun der Sklavenjäger, der Schmied oder der Typ von der Zeitung ist, der die Fahndungsaufrufe druckt. Jeder wird von der Bosheit der Sklaverei deformiert.
Doch ob der Zeitungsmann auch nur eine Sekunde über die mörderischen Konsequenzen seiner Aufrufe nachdenkt, ob es für ihn einen Unterschied macht, ob er eine Todes-, Hochzeits- oder Fahndungsanzeige druckt, ob er nach dem Druck eines Fahndungsaufrufes abends mit schlechtem Gewissen bei Frau und Kindern sitzt, ob der Schmied, nachdem er sein Brandeisen und seine Werkzeuge für das Anbringen der eisernen Fesseln abends auf die Seite legt, sich für sein Tun schämt, ob er auch nur eine Sekunde darüber nachdenkt, wie schändlich Sklaverei ist, ob sich auch nur einer der „Deformierten“ den Einladungen der Sklavenhalter zu ihren Festen und Feiern entzieht? Die Antworten finden sich allzu leicht.
Zum Schluss ein zentraler Satz des Romans: „Die Wahrheit war eine wechselnde Auslage in einem Schaufenster, von menschlicher Hand verfälscht, wenn man gerade nicht hinsah, verlockend und stets außer Reichweite.
Hören
Beim Lesen dieses Romans fallen mir unmittelbar Billie Holidays Strange Fruit, Nina Simones Four Women und auch Odetta, Woody Guthrie und Pete Seeger ein. Go Down Moses, gesungen von der 1897 geborenen Opernsängerin Marian Anderson oder von Mahalia Jackson, stellen einen ganz besonderen Bezug zum Buch her. Dieses Spiritual geht möglicherweise auf Harriet Tubman zurück. Ihr gelang es mit Hilfe der Underground Railroad zu fliehen und über diese Fluchtroute anschließend mehreren hundert Sklaven zur Flucht zu verhelfen. Die Sklaven nannten sie „Moses“.
Gehört habe ich:
Sister Rosetta Tharpe. Gospel Train (1956) plus Sister On Tour (1961)
(1915 Arkansas – 1973 Philadelphia). Seit Jahren eher ignoriert, gehört Sister Rosetta Tharpe zu den ganz Großen Gospelstimmen. Sie war unter den ersten Frauen, die die elektrische Gitarre einsetzten. Blues, R & B und Jazzelemente verband sie zu etwas ganz Neuem. Aufgewachsen unter den Fittichen ihrer singenden und predigenden Mutter, stand sie bereits mit sechs Jahren an ihrer Seite, sang Gospels und weltliche Lieder und begleitete auf der Gitarre.
Nat Henthoff schreibt in den Anmerkungen zu Sister On Tour: „What Sister Rosetta says in her music is simply an invitation to break free of defenses and enjoy the rush of emotions that cannot be held back once her kind of music begins.
The Blind Boys Of Alabama: Higher Ground. 2002
1939 von fünf blinden Jungen im Alter von neun Jahren gegründet, gehören die Blind Boys seit Jahrzehnten zu den besten traditionellen Gospelgruppen der Welt. Die Reihe der Künstler, mit denen sie zusammengearbeitet haben reicht von Mahalia Jackson bis zu Tom Waits und Lou Reed und immer wieder dem 1969 geborenen Ben Harper (Gesang u Gitarre), der auch auf Higher Ground zu hören ist.
Otis Taylor: Fantasizing About Being Black. 2017
(*1948); Während Rhiannon Giddens das traditionelle Banjo wiederbelebt (s. Jesmyn Ward), steht bei Otis Taylor das elektrische Banjo im Fokus. Seit Jahren wird er kongenial durch Anne Harris an der Violine begleitet. Taylor sagt:
The folk thing was about civil rights …
Folk music is the music of the working class, the music of the folks.
Blues is folk music.
Charlie Haden / Hank Jones. Steal Away. 1995
Eine Platte mit Spirituals und Gospels, gespielt von Bass (Haden) und Piano (Jones).
Charlie Haden (1937 – 2014), eine der stilprägenden Persönlichkeiten des Free Jazz, wendet sich seit den 60er Jahren vor allem im „Liberation Music Orchestra“ gegen die Missstände in den USA.
Hank Jones (1918 – 2010), Sohn eines Baptistenpredigers und ältester Bruder der ebenso einflussreichen Jazzmusiker Thad (Trompete) und Elvin (Schlagzeug), war jahrzehntelang idealer Begleiter. „Mit seinem untrüglichen Gespür für die Spannungsbögen eines Solisten konnte er Jazzbands jeder Größe mit behutsamen Harmonien erden oder mit zielstrebigen Akzenten in Wallung bringen.“ Andrian Kreye. Der Begleiter. In: Süddeutsche Zeitung, 19.5.2010, zit. nach Hank Jones in Wikipedia
Jaimeo Brown Transcendence. Work Songs. 2016
Im Programm zum Jazzfest Berlin heißt es 2013 zu dem 1978 geborenen Schlagzeuger:
Der Einfluss der schwarzen Kirche auf den Jazz“, das ist das Thema, das der New Yorker Drummer Jaimeo Brown für seine Diplomarbeit wählte. Transformationen von Gospels und Spirituals aus Alabama, angereichert mit modalen Anlehnungen an indische Musik, mit Black Poetry inklusive HipHopTendenz und frei fließenden ImprovAssoziationen vereinigen sich in dem Projekt „Transcendence“ zu einem brodelnden Gebräu. Das Portfolio des Drummers, in dessen Musik das Herz des zeitgenössischen Harlem schlägt, reicht von der Mingus Big Band über Stevie Wonder bis zu TechnoIkone Carl Craig. Für das Berlin Konzert wird das Trio erweitert um Tastenmann Kelvin Sholar, einem Ausnahmetalent, das in so unterschiedlichen Stilen wie Free, Groove Jazz und Techno zu Hause ist.
Nachtrag 2021: Frisch reingekommen und eine spannende Begleitung zum Buch:
Archie Shepp / Jason Moran: Let My People Go. 2021
Von einem Album wie diesem wagt man kaum zu träumen. Hans-Jürgen Schaal. Jazzthetik Mai/Juni 2021.
Der Saxofonist Archie Shepp und der fast 40 Jahre jüngere Pianist Jason Moran zeichnen auf diesem Livealbum die Geschichte der „Black Music“ nach, angefangen bei den Spirituals (Go Down Moses) bis hin zur Gegenwart (He Cares).
Der musikalische Lebensbogen von Archie Shepp (*1937) spannt sich vom Rhythm and Blues der frühen Jahre über Hard und Bebop bis zum Free Jazz von John Coltrane bis zu Cecil Taylor und zur Zusammenarbeit mit dem Rapper Napoleon Maddox. Vor allem seit den 70er Jahren treten afroamerikanische Rhythmen und Melodien, mit denen er die amerikanischen Ghettobewohner erreichen will, immer stärker in den Fokus.
Jason Moran (*1975) beeindruckt durch sein konzentriertes Spiel und seine musikalische Offenheit, geprägt durch seine eigene klassische Ausbildung, seinen frühen Kontakt in die Jazzwelt, durch seine Frau Alicia, Mezzosopranistin, die sich zwischen Oper, Theater, Musical und Jazz bewegt, aber auch als bildende Künstlerin weltweit Anerkennung findet.