Mai 2021
 Lesen und Hören

Ahmed Bouanani. Das Krankenhaus. Weltlese. Büchergilde Gutenberg, Ffm / Wien / Zürich 2020

Freunden der Berlinale ist der Name des marokkanischen Filmemachers Ahmed Bouanani (1938-2011) vielleicht 2017 aufgefallen. Bouananis Filme, oft nur Fragmente, erfahren seit ihrer Aufführung im MoMa in New York 2011 auch außerhalb der arabischen Welt große Aufmerksamkeit in der Kunstszene, so auch in Berlin. Die Berlinale präsentierte seinen in Schwarz-Weiß gedrehten Film Al-Sarab (The Mirage). Es war der erste und zugleich letzte abendfüllende Film Bouananis. Im Zentrum des Films steht der Satz „One day, dreaming will be outlawed.“ Dieser bemerkenswerte Film über einen Lumpensammler, der zufällig einen Sack Geld findet, das er aber nirgendwo loswird, folgt einer Erzählweise, die „sich keiner Konvention beugt, sondern der unwägbaren Grammatik der Träume“ (Berlinale Archiv 2017).

Seine Liebe zum Film entdeckt Bouanani bereits als Kind bei seinem Onkel, einem Filmvorführer. Auf den Müllhalden Casablancas findet er amerikanische Comics, die ihn später auch in die Welt der Science-Fiction führen. Nicht überraschend zeichnet er 1983 einen Comic für die Zeitung Al Maghrib.

Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 streben junge marokkanische Künstler in neue Richtungen vor. Kreativität soll einerseits auf dem originären kulturellen Erbe des Landes gründen, andererseits aber die Aktualität internationaler Kunstströmungen einbinden. Aus dieser Bewegung entsteht 1966 die Avantgardezeitschrift Souffles, für die Bouanani in den ersten beiden Jahren als Mitherausgeber arbeitet. Hier veröffentlicht er lyrische Texte und Essays über orale Literatur. Die gegen den Konservatismus der Herrschenden gerichtete Zeitschrift der „linguistischen Guerillas“ ändert nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und den Pariser Unruhen im Mai 1968 nach und nach den Fokus. Ihr Mitbegründer Abdellatif Laabi erklärt 1970, dass „Literature was no longer sufficient“. Souffles wird zum Organ der linksrevolutionären Gruppe Ila-al-Amam und 1972 verboten.

Als Regisseur verdient sich Bouanani in der arabischen Welt zahlreiche Lorbeeren; doch seine literarischen Werke bleiben nahezu unbeachtet. Als Grund nennt David Ruffel im sehr lesenswerten Nachwort zu Das Krankenhaus vor allem die „schwierige Verlagssituation in Marokko“. Lediglich vier Bücher Bouananis werden zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Großprojekte, z. B. eine „Geschichte des marokkanischen Kinos“ sowie ein dreibändiger Roman, zahlreiche Gedichte und Erzählungen harren der Veröffentlichung.

Als ich das hohe, schmiedeeiserne Portal des Krankenhauses durchschritt, muss ich noch am Leben gewesen sein.

Ähnlich wie Bouananis Filme folgt auch Das Krankenhaus einer ganz eigenen Erzähllogik, die auf den eigenen Erfahrungen des Autors in einem Krankenhaus für Tuberkulöse basiert. Es ist ein schmales Bändchen von nicht einmal 120 kleinformatigen Seiten, erschienen in der Reihe „Weltlesen“ der Büchergilde Gutenberg.

Bereits dieser erste Satz der Erzählung weist auf die Verknüpfung von Wirklichkeit und Fantasie, die sich als roter Faden durch das Buch zieht. Erleben wir zunächst noch ein „reales“ Krankenhaus mit Patienten, Pflegern und Mauern, so verliert es im Verlaufe der Handlung „seine festen Umrisse und Grenzen und nimmt die Dimensionen der ganzen Gesellschaft, ja der Existenz selbst an“ (Ruffel). Lebende und Tote gehen Hand in Hand, Todesengel bemächtigen sich nach und nach der bunten Schar an Insassen.

Nein, Leute wie wir werden nicht geheilt. Bei unsereins hält man nur gerade die kleine Lebensflamme am Köcheln, damit wir nicht glauben, wir seien richtiggehende Menschen! Dann sagt man uns Salut bis zum nächsten Mal, wir gehen zurück in unseren Alltagsdreck, versuchen wieder Fahrt aufzunehmen, wir rutschen aus, schlagen uns die Fresse auf dem Asphalt blutig, zum Leben ist es für Leute wie uns immer schon zu spät, immer schon …

Das Krankenhaus ist ein Buch voller Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen. Es ist auch ein Ort des Friedens, des immer gleichen Rhythmus‘, ein Ort, dessen Insassen der Welt „scheißegal“ sind. Die Erzählung entwickelt ihren ganz eigenen Sog in eine uns fremde Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Aber wohin sollen sie auch gehen, die Armen, die Bettler und Lumpensammler, die Gebildeten und die Ungebildeten, die sich hier wiederfinden?

Hau du auch ab, Korsar, mein Kumpel ist am Verrecken, und du sagst mir, ich soll den Koffer packen! Fortgehen, fortgehen, aber wohin, verdammte Scheiße?

Dahin, wo es Tag ist, wo die Hoffnung noch nicht gestorben ist, wo es noch Blumen gibt …

Weißt du, wohin du sie dir stecken kannst, deine Hoffnung, und die Blumen gleich hinterher?

Das schmiedeeiserne Eingangstor ist verschwunden. Es bleibt nur der Sturzflug in die Fantasie und ins Nirgendwo der schlimmsten Orte.

Wir haben hier die Fähigkeit, die Zeit zu drücken und zu kneten, wie man einen willigen Schenkel drücken und kneten würde. Aber trotz dieser berechneten und automatisierten Wiederholung der Tage und Nächte, von Sonne und Mond, haben wir die furchtbare Gewissheit erlangt, dass es der immer gleiche Tag und die immer gleiche Nacht sind, die sich hier mit der Verlässlichkeit eines Albtraums abwechseln.

Die Ähnlichkeiten zwischen Bouananis Krankenhaus und den Werken Kafkas sind unüberlesbar. Bewegt sich jener vor dem Hintergrund der arabischen Kultur, liegt Kafkas Werk die jüdische Kultur zugrunde, zwei Kulturen, die sich wie Nachbarskinder umeinander bewegen und miteinander verwoben sind. Auch für Kafkas Figuren beginnt das Unheil oft im Bett. Und nicht zuletzt zieht sich die vergebliche Suche nach der sich – doch nicht – öffnenden Tür auch durch Kafkas Werk.

Hören

Es verwundert nicht, dass Bouanani in seiner Erzählung zwei „Klassiker“ der arabischen Musik nennt, Oum Kalthoum und Mohammed Abdel Wahab. Beide habe ich beim Lesen des Buches gerne gehört, da auch sie ihren ganz eigenen ruhigen Fluss entwickeln.

Oum Kalthoum

geboren 1904 im Nildelta, gestorben 1975 in Kairo. Ihr Vater, Imam und Sänger religiöser Lieder hört die auffällig kräftige Stimme der Fünfjährigen, die bereits den Koran auswendig gelernt hat. Er überwindet sich, nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Tochter im Sprechgesang des Korans zu unterrichten. Fortan verstärkt sie sein kleines Ensemble, eine Ungeheuerlichkeit, war Musik in der arabischen Welt doch ausschließlich Männern vorbehalten. Zur Tarnung muss Oum jahrelang in Männerkleidung auftreten.

Sie lernt den von ihre bewunderten Scheich Abu-I-Ila kennen, einen der bekanntesten religiösen Sänger in Ägypten. Er unterrichtet sie darin, der Bedeutung religiöser Texte Töne zu geben. Und er überzeugt Oums Vater, seine achtzehnjährige Tochter, begleitet von ihrem Bruder, vom Land in das moderne und mondäne Kairo ziehen zu lassen.

Seitdem nimmt ihre Karriere rasant Fahrt auf: noch vor 1925 erste eigene Aufnahmen; 1932 erste internationale Tournee durch arabische Hauptstädte; 1934 Einweihung von Radio Cairo, dem ersten ägyptischen Radiosender; nur einmal Auftritte in Europa, im Olympia in Paris, dem Zentrum arabischer Bevölkerung in Europa.

Mit ihrer markanten Stimme und ihren Liedern von Liebe und Heimat wird sie zur Kultfigur der sich entwickelnden arabischen Welt. Sie ist nicht nur bedeutende Sängerin, sondern auch Dichterin, die zahlreiche Dichter der arabischen Welt beeinflusst. Bei Konzerten vor dem Oktoberkrieg von 1973 sammelt die eng mit Gamal Abdel Nasser befreundete Oum viele Millionen für Ägyptens Kriegsvorbereitung.

Sie spielt in Filmen und Musicals das Mädchen vom Lande und sorgt für leergefegte Straßen bei ihren regelmäßigen Donnerstagskonzerten im Rundfunk.

Ihr Tod am 03. Februar 1975 treibt Millionen Ägypter auf die Straßen Kairos. Die arabische Welt verfällt in Schockstarre.

2019 stand das Wirken und Nachwirken von Oum Kalthoum auf dem Programm der von Naseer Shamma geleiteten Arabic Music Days in Berlin. Hier trat u. a. Mai Farouk auf, die heute als wichtigste Epigonin von Oum Kalthoum gilt. Begleitet wurde das Programm von aktuellen Werken der Künstlerinnen Zaria Zardasht (Syrien) und Nadira Mahmoud (Oman)

Hinweis:

Arabische Musik ist häufig eine improvisierte Musik, die sich – ähnlich der indischen Musik -, langsam entwickelt und von der Kommunikation mit dem Publikum lebt, daher auch kaum mit dem Längenmaß westlicher Musikstücke zu messen ist. Liveaufnahmen geben den Charakter der Musik zumeist am besten wieder.

Diva of Arabic Music

CD 1 bringt zwei Liveaufnahmen; CD 2 drei Studioaufnahmen.

La Ya Habibi (No, My Love – Liedtext siehe unten)

Nur dieses eine sehr typische Lied, Live aufgenommen, Dauer 41 Min.

Mohammed Abdel Wahab

Sohn Kairos, dort 1907 geboren und dort 1991 gestorben. Nicht nur Sänger, sondern auch Komponist u. a. der Nationalhymnen von Libyen, VAE und Ägypten. Arbeitete oft mit Oum Kalthoum zusammen, für die er mehrere Stücke schrieb.

Sein wesentlicher Beitrag zur arabischen Musik liegt darin, dass er die traditionelle arabische Musik mit westlichen Elementen verband – vom Walzer bis zum Rock and Roll. Ein weiteres Element waren die ausgedehnten Instrumentalpassagen, wie sie auch die Musik von Oum Kalthoum charakterisieren.

1934 produzierte Abdel Wahab gemeinsam mit seiner Frau seinen ersten Film „Die Weiße Rose“ (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Verhoeven-Film).

Abdel Wahab war der erste ägyptische Musiker, der mit einem Staatsbegräbnis beerdigt wurde.

Kollina Nehib Elqamar

Aufnahmen aus den frühen Jahren von 1920 bis 1935

Zum Reinhören

Oum Kalthoum: Leily Nehary La Ya Habeeby:

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National Arab Orchestra w. Leila Mai Farouk: Alf Leila

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Ein Tribut an Oum Kalthoum durch die heute sehr populäre Sängerin Mai Farouk, die auch zahlreiche Werke von Mohammed Abdel Wahab interpretiert.

Mohammed Abdel Wahab: Bafakar Fe Ely Naseny

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Abdel Halim Hafez: Ya Alby Ya Khaly

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In dieses Lied von Abdel Halim Hafez integrierte Abdel Wahab Swingrhythmen.

Liedtext
La Ya Habibi (No, My Love)

I’m thinking about you day and night, my life will always be yours alone

And yet you still believe an envious hater

They told you jealousy increases my love, and with tears and confusion you can own my heart

No, my love

Only with love are you precious to me, only with love are you the light for me eyes

Only with a little bit of love

No, my love

When I loved you I considered what happened to me and what will happen

I imagined my happiness and bless by your side, my restlessness when you’re away and the fire of my suffering

I never said how and why I loved you

and I never said if only you or I

With all my heart and all my mind I loved you

Love is amiability and kindness

It was never jealousy, suspicions or harshness

Love is what molds your identity

It’s not in your hands or mine

Who said your pride lies in my submission

or that your value in love is in my tears

If I accepted being insulted, what about my heart

How can you betray it and control it

Only with love did I surrender my heart to you

Only with love, not by my jealousy

Where is the kindness and safety, my love?

If my mind is clouded by the buzzing around you

Being apart is easier than suffering near you

and seeing a day that I regret being at your side

It’s enough for me to live in memories while you’re away

I lived more than my lifetime in your love

Only with love are you precious to me

Only with love are you the light for my eyes

Only with a little bit of love

No, my love

https://lyricstranslate.com/de/la-ya-habibi-no-my-love.html