März 2021
 Lesen und Hören

Tom Segev. David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis. Siedler Verlag, 2018

Mehr als 4 Millionen Menschen besuchten 2019 Israel, ein neuer Rekord. Im selben Jahr wurden mehr als 1.000 Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf den Süden Israels gefeuert. Die Reaktionen aus Israel entsprechend heftig. Die Zahlen zeigen die Widersprüchlichkeit, aber auch die Fragilität der Situation im Nahen Osten. Wir scheinen uns daran gewöhnt zu haben, teilen uns vielfach in zwei Lager: Unterstützer oder Kritiker Israels. Aber vielleicht ist alles viel komplizierter, als wir denken, viel verwobener.

Tom Segev nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise, die im frühen 20. Jahrhundert beginnt und mit dem Ende des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 endet. Seine Reise verläuft entlang der Lebenslinie von David Ben Gurion, der zentralen Persönlichkeit in diesen Jahrzehnten. Und diese Reise hilft uns zu verstehen, wo die Ursachen der nun mehr als 70 Jahre dauernden Angriffe auf Israel zu finden sind.

Tom Segev ist einer der profiliertesten israelischen Historiker mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte von Palästina und Israel. Gott sei Dank ist Segev auch Journalist. Er schafft es, die komplexe Materie in eine spannende Erzählung zu übersetzen. Damit wird dieses Buch nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für jeden interessierten Laien, der endlich verstehen will, wo die Ursachen des Pulverfasses Naher Osten liegen, zu einer äußerst gewinnbringenden und spannenden Lektüre.

Segev lotet in zwei Blöcken zuerst Ben Gurions „Weg an die Macht“ und anschließend dessen „Grenzen der Macht“ aus. Den Wendepunkt zwischen den Blöcken bilden die Ausrufung des Staates Israel und der israelische Staatsgründungskrieg der Jahre 1947 bis 1949.

Ben Gurion war politischer Aktivist, Ränkeschmied und Taktierer, der keine Scheu hatte für den eigenen politischen Vorteil zu lügen, dass sich die Balken bogen. Mit Rücktrittsdrohungen setzte er seine Kontrahenten immer wieder unter Druck und erreichte damit fast immer sein Ziel. Aber hätte es damals eine Alternative zu diesem „alten Fuchs“ gegeben? Segev kommt zu dem Schluss, dass Ben Gurions Fleiß, exzellente Detailkenntnisse und seine langjährige politische Erfahrung ihn praktisch alternativlos machten.

Segev zeigt aber nicht nur den schillernden Politiker, sondern verknüpft ihn mit dem Privatmann, dem Familienvater, Liebhaber, Bücherwurm, dem Mann, der kaum echtes Interesse am Leid seiner Schwestern und seines Vaters im Hungerland Polen zeigte, dem Mann, der jede Art von Humor für Zeitverschwendung hielt.

Das Buch bietet eine Fülle neuer Sichten auf das britische Mandatsgebiet Palästina und die Geschichte des jungen Staates Israel. Es zeigt die Konflikte innerhalb der verschiedenen jüdischen Organisationen, die Machtkämpfe, die Egoismen der Agenten, ihre Lügen und Betrügereien, dass mir beim Lesen manches Mal der Atem stockte. Stück für Stück, Seite für Seite wird deutlich, warum Segev seinem Buch den Untertitel „Ein Staat um jeden Preis“ gab.

Zum Schluss ein Zitat aus einem Interview mit Tom Segev aus der Jüdischen Allgemeinen Zeitung vom 18.05.2018. Es bezieht sich auf den Titel: „Ein Staat um jeden Preis“:

Umso älter dieser Staat wird, desto mehr bin ich mir bewusst geworden, wie hoch der Preis ist, den der Zionismus kostet. Und der Preis, den Ben Gurion bezahlt hat, den er für die Entstehung des Staates bereit war zu zahlen, der war sehr hoch. Und damit meine ich nicht nur die arabische Tragödie, sondern vor allem das Bewusstsein, dass es niemals Frieden geben kann. Ben Gurion war von Anfang an dieser Ansicht. 1919 hat er bereits erklärt, dass es mit den Arabern in Palästina eigentlich keinen Frieden geben kann. Weil es einfach kein Volk gibt, das sein Land aufgibt. Das gibt es nicht! Er hat auch manchmal gesagt: »Wenn ich Araber wäre, dann würde ich dem Terrorismus beitreten.« Also, der Preis für die Entstehung des Staates Israel ist das Bewusstsein, dass es auf lange Zeit – es gibt nichts Ewiges – keinen Frieden geben wird.

Fazit: ein sehr nachdenklich stimmendes, gewaltiges Werk über eine Zeit, die nicht nur bis in unsere Tage Nachwirkung zeigt.

Hören

Israel und Musik verbinden wir oft unmittelbar mit Klezmer und Klarinette. Doch ist das nur eine Facette der reichhaltigen und so verschiedenartigen Musik des Landes. Auf Aneinu! von Moshe „Moussa“ Berlin und seinem Ensemble hören wir hassidisch-orthodoxe Musik der Klezmer Tradition in einer yeshiva, in einer jüdischen Hochschule, in der das Ende des Simchat-Tora-Festes gefeiert wird. Nigunim reiht sich nahtlos an Nigunim (Melodien zur geistigen Erbauung). Ganz anders dagegen die Musik spanischer Juden auf der CD Yedid Nefesh. Amant De Mon Ame gespielt auf Perkussionsinstrumenten, einer Langhalslaute (Tar) und der Viola da Gamba. Nicht nur die Instrumente sind so anders als bei den osteuropäischen Juden; hier singen auch Frauen. Ganz besonders ans Herz legen möchte ich eine faszinierende Sammlung Jiddische Musik in Deutschland und ihre Einflüsse (1953 – 2009). Bear Family Records hat eine absolut hörenswerte vierteilige Reihe mit je 3 CDs und ausgesprochen lesenswerten Begleitbüchern von oft rd. 100 Seiten zu einem sehr günstigen Preis zusammengestellt.

Zum Reinhören:

Eine bewegende Aufnahme vom Jewish Culture Festival 2015 mit u. a. Frank London, dem Mitbegründer der Klezmetics und dem New Yorker Kantor Yaakov Lemmer: Ahava Raba_Oseh Shalom:

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Ganz klassisch: Itzhak Perlman und Kantor Yitzchak Meir Helfgot mit Kol Nidre, dem berühmtesten Gebet an Yom Kippur, dem Versöhnungstag und höchsten jüdischen Feiertag:

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Und dann noch Jewish Music & Yiddish Songs. Songs of the Jewish Shtetle mit Efim Alexandrov:

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Nicht nur im Westen können wir Glitzershow 🙂