Von damals und von dieser Zeit (Franz-Josef Degenhardt, LP-Titel 1988)
Von damals …
1971 neigt sich dem Ende entgegen. Ein musikalisch schwergewichtiges Jahr, obwohl ich das damals noch nicht weiß: Bei einem Spaziergang durch den Moerser Schlosspark stecken zwei Innovatoren des Free Jazz, der Bassist Peter Kowald und der Saxofonist Peter Brötzmann, beide aus Wuppertal, die Köpfe zusammen und legen den Grundstein für das 1972 gestartete „Internationale New Jazz Festival Moers“, das schon bald zu einem der weltweit bedeutsamsten seiner Art werden sollte. Unterstützt werden sie von Burkhard Hennen, dem Leiter der Kulturkneipe Röhre. Von Anfang an lausche ich viele Jahre zu Pfingsten im Moerser Schlosspark bei Wind und Wetter schrägen Tönen aus aller Welt.
Im Herbst 1971 aber warte ich sehnsüchtig auf Mieke. Schmetterlingsgleich flattert sie herein, drückt mir die bestellten Platten in die Hand, hat kaum Zeit für eine Umarmung und ist schon wieder verschwunden. Macht nichts. Ich muss mich um meine neuen Schätze kümmern. Ich halte die Live-Aufnahme von Fela Ransome-Kuti and the Africa ’70 with Ginger Baker in Händen. Bis heute ist es eines der Alben, die mich immer wieder umhauen.
Was war das für eine merkwürdige Kombination aus einem bunten Strauß afrikanischer Musiker, die bei uns kaum jemand kannte und dem vielleicht berühmtesten Rockschlagzeuger seiner Zeit. Anfangs hatte ich geglaubt, die Aufnahme stamme aus einem Auftritt in Londons bekanntestem Club, Ronnie Scotts und man habe Ginger Baker als Zugpferd zu dieser Afro-Band dazugebucht; doch es war alles ganz anders:
Erstens fand die Aufnahme in den berühmten Abbey-Road-Studios vor Publikum statt. Einen spannenden Einblick in die Produktion liefert 50 Jahre später der legendäre Produzent Jeff Jarratt, der u. a. die Beatles, Procul Harum, Pink Floyd, John & Yoko, Daniel Barenboim und Yehudi Menuhin unter seinen Fittichen hatte: Fela Ransome-Kuti and The Africa ’70 with Ginger Baker – The Story Behind The Records with Jeff Jarratt (abbeyroad.com)
Zweitens war Fela nicht wirklich unbekannt in England.
Und drittens kannten sich Fela und Ginger schon seit einiger Zeit.
Fela Anikulapo-Kuti (1938 – 1997)
England war bereits seit den ausgehenden 1940er Jahren ein Schmelztiegel vieler Nationen. Der British Nationality Act von 1948 bot Mitgliedern des Britischen Königreiches den Status als „Citizen of the United Kingdom and Colonies“ (CUKC) und zog viele tausend Menschen aus Jamaika, Trinidad und Tobago, Singapur und auch aus Afrika an. Nach Schätzungen der University of Oxford waren es zwischen 1948 und 1971 rund 500.000 Einwanderer aus den Ländern des Commonwealth, die auch wegen des Arbeitskräftemangels nach Kriegsende dringend benötigt wurden. Mit den Menschen kam ihre Musik, von Reggae bis Calypso, von Highlife bis zu traditioneller Stammesmusik.
Ende der 1950er Jahre schicken die Eltern auch Fela nach England. Er soll, wie seine beiden Brüder und seine Schwester, Arzt werden und nach der Ausbildung in der Heimat arbeiten. Felas Familie gehört dem Egba-Zweig der Yoruba in Nigeria an und genießt ein hohes Ansehen. Der Vater ist Pfarrer und Direktor des örtlichen Gymnasiums. Seine Mutter arbeitet zunächst als Lehrerin, gewinnt später aber bemerkenswerten Einfluss als Politikerin im Kampf für die Rechte der Afrikaner unter kolonialer Herrschaft. Sein Cousin Wole Soyinka erhält als erster Afrikaner 1986 den Literaturnobelpreis – die Academy of Achievement führte damals ein sehr lesenswertes ausführliches Interview mit Wole Soyinka. Wole Soyinka Interview — Academy of Achievement (archive.org). Soyinka ist „nur“ einer in einer langen Reihe exzellenter afrikanischer Autoren wie Chinua Achebe, Meji Mwangi, Ngugi wa Thiong’o (er galt lange Zeit als Favorit für den ersten Literaturnobelpreis an einen Afrikaner), Amadou Hampate Ba, Giselher W. Hoffmann, Aniceti Kitereza, Ken Saro-Wiwa, Ben Okri, usw. usw., deren Werke wir wie unsere Tagesdosis an Musik verschlingen.
Fela lässt jedoch die Medizin liegen und schreibt sich an der Trinity School of Music in London ein. Er gründet seine erste Band, Koola Lobitos, in der er nach und nach die afrikanische Highlife-Musik mit Jazzelementen verbindet.
Kuti was coming at music from a different perspective to most. He was proficient on the drums, keyboard, guitar, saxophone, singing, and jive about like a Lemur behind a jackhammer. However, he was far from the only multi-instrumentalist with character on the scene. What made him stand out was the wavering path of his eventful life and the views he had collected along the way.
During his time invigorating the London scene with the vibrant African rhythms of home and a profoundly spiritualised viewpoint, he somehow stirred the angriest man in music into the groove, in the form of Cream’s superstar drummer Ginger Baker.
Tom Taylor | Farout magazine | 19.08.2021 | When Ginger Baker and Fela Kuti created Afrika 70’s ‚Live!‘ When Ginger Baker and Fela Kuti created Afrika 70’s ‚Live!‘ (faroutmagazine.co.uk)
1963, drei Jahre nach der Unabhängigkeit Nigerias von der Kolonialmacht England, kehrt Fela in seine Heimat zurück und entwickelt in Lagos gemeinsam mit seinem Schlagzeuger Tony Allen ihren eigenen Afrika-Beat kontinuierlich fort. In kurzer Zeit erobert er nicht nur den afrikanischen Kontinent. Fela wird zum in der ganzen Welt umjubelten Star.
1969 packt er seine Band, reist mit ihr in die USA und gibt der Gruppe den neuen Namen Fela Ransome-Kuti and Nigeria 70.
Zur damaligen Zeit (der Kolonialzeit) ließen sie uns nur das hören, was sie uns hören lassen wollten; wenn man das Radio spielen ließ, so war es kontrolliert von der Regierung, und der weiße Mann spielte, was er wollte, so daß wir nicht das Geringste über schwarze Musik erfuhren. In England aber war ich allen diesen Dingen ausgesetzt, während sie uns in Afrika von all dem völlig abschnitten. Nachdem ich alle diese Erfahrungen gemacht hatte, kam der Zeitpunkt, an dem ich vom Jazz Gebrauch zu machen begann, und ich gebrauchte den Jazz als eine Übergangsstufe zur afrikanischen Musik. Später, als ich dann nach Amerika kam, wurde ich mit der afrikanischen Geschichte konfrontiert, der ich nicht einmal hier ausgesetzt gewesen war. Damals begann ich wirklich zu erkennen, daß es nicht afrikanische Musik gewesen war, was ich gespielt hatte. Ich hatte auf den Jazz zurückgegriffen, um afrikanische Musik zu spielen, während ich doch in Wirklichkeit auf die afrikanische Musik hätte zurückgreifen sollen, um Jazz zu spielen. So war es in Amerika, das mich zu mir selbst zurückbrachte.
Zitat bei: John Collins. Die populäre Musik in Westafrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Veit Erlmann (Hg.). Populäre Musik in Afrika. Museum für Völkerkunde Berlin. Berlin 1991. Veröffentlichungen des Museums für Völerkkunde Berlin. Neue Folge 53. Abteilung Musikethnologie VIII. S. 15 – 33; Zit: S. 29f.
Über eine Freundin kommt Fela in Kontakt mit den Black Panthern, lernt Malcolm X, Eldridge Cleaver und viele Künstler, Denker und Aktivisten aus ihrem Umfeld kennen. Fortan steht der „Black Man’s Cry“ im Zentrum seiner Musik. Nach Treffen mit Miles Davis, James Brown und Sly Stone, erweitert Fela gemeinsam mit seinem Schlagzeuger Tony Allen seinen Sound um Soulelemente.
Zurück in Nigeria ändert Fela erneut den Namen seiner Band, zunächst in Fela Ransome-Kuti & Africa 70, später dann in Fela Anikulapo-Kuti & Africa 70. Ransome war die negative Verbindung zum Sklavendasein und damit für einen selbstbewussten Mann wie Fela nicht länger tragbar. Anikulapo zeigte dagegen die Macht des Schwarzen: Anikulapo = he who carries death in his pouch, ein Ausdruck für Unsterblichkeit.
Nach und nach wechselt Fela von der Trompete zu Saxofon und Klavier und beginnt zu singen. Um überall in Nigeria und den Nachbarstaaten verstanden zu werden, singt er primär in Pidgin-Englisch und kaum in Yoruba. Mit seinen sozial-kritischen Texten können sich die meisten Afrikaner nicht nur in Nigeria identifizieren, sicherlich ein wesentliches Element für Felas rasend schnellen Aufstieg zum unangefochtenen Star der Szene.
In vielen afrikanischen Gesellschaften kann jemand, der eine Beschwerde vorbringen will, einen Liedermacher engagieren, der dann in seiner Komposition das Problem ‚auf den Tisch bringt‘. Ein Gesang kann die Schwelle sozialer Abgrenzung überschreiten, ohne als ungehöriger Angriff empfunden zu werden. …
In afrikanischen Musikkulturen wirkt der ausgebildete Musiker tief auf soziale Prozesse ein, erfüllt sozusagen eine moralische Autoritätsfunktion, die unsere Gesellschaft an andere Berufe delegiert hat.
John Miller Chernoff. Rhythmen der Gemeinschaft. Musik und Sensibilität im afrikanischen Leben. 1994 München, Trickster Verlag, S. 94.
Auch ohne direkten Auftrag durch einen Beschwerdeführer sind afrikanische Musiker immer wieder (partei-)politisch aktiv, z. B. Youssou N’dour im Senegal, Bobi Wine in Uganda, Professor Jay und Mr. Il Sugu and 2-proud in Tansania. Sie sind bzw. waren Abgeordnete der regierenden bzw. der Oppositionsparteien. Auch Fela Kuti mischt sich aktiv in die Politik seines Landes ein. Er gründet seine eigene Republik als „Staat im Staate“ und kandidiert mehrfach mit seiner Partei MOP – Movement of the People – bei Präsidentschaftswahlen. Seine oftmals ironischen oder satirischen Texte gegen das Militärregime – z. B. das landauf, landab gespielte und gesungene Lied Zombie – führen zu massiven Gewalteinsätzen des Regimes. Die Militärs stürmen mit 1.000 schwer bewaffneten Soldaten Felas Republik, die zu einem Magnet für junge Afrikaner und zu einer Keimzelle der Opposition geworden war. Sie brennen alles bis auf die Grundmauern nieder, zerschlagen die Einrichtungen, sein Musikstudio, seine Instrumente und seine Master Takes, prügeln brutal auf die Bewohner ein. Fela erleidet einen Schädelbasisbruch, seine betagte Mutter werfen die Soldaten aus dem Fenster; sie erliegt Monate später ihren Verletzungen. Fela flieht mit seiner Band nach Ghana. In den Liedern „Coffin for Head for State“ und „Unknown Soldier“ verarbeitet Fela diese Brutalität.
Aber Fela ist auch Macho, der seinen Sexismus hinter der Forderung nach Rückkehr zu traditionellen afrikanischen Werten versteckt. Im Lied Shakara richtet er sich gegen die emanzipierte, moderne Afrikanerin:
Weißt du, wenn du Liebe in Afrika willst, wir haben hier so viele Frauen, da brauchst du so etwas wie (romantische Liebeslieder) nicht.
Zit. bei John Collins, a.a.O., S. 31.
Mit seinem Schlagzeuger liegt er in ständigem Wettstreit, wer in einer Nacht mit mehr Frauen Sex hatte. Kondome lehnt Fela als Versuch der Weißen ab, auf diese Weise die Geburtenrate der Schwarzen zu verringern. „Homosexualität geißelte er als Strafe für ein früheres sündhaftes und unmoralisches Leben.“ (Fela Kuti zum 75.: Der König des Afrobeat | Playback | Nachtmix | Bayern 2 | Radio | BR.de)
Kein Wunder, dass er sich mit HIV infiziert. Den Weg ins Krankenhaus und eine Behandlung lehnt er ab. 1997 stirbt Fela an den Folgen der Infektion. Bis zum Schluss leugnet Fela die AIDS-Diagnose.
Heute setzen nicht nur seine Kinder Femi und Seun das Werk ihres Vaters fort, sondern auch Bands in aller Welt, z. B. Antibales Afrobeat Orchestra aus New York, Newen Afrobeat aus Chile und Indie-Pop-Bands wie TV On The Radio oder Vampire Weekend aus New York. Die Kompilation „Red Hot + Riot – The Music And Spirit Of Fela“ ist der erste Tribut-Sampler zu Ehren von Fela Kutis Musik. Er versammelt nicht nur eine illustre Schar an Stars, z. B. D’Angelo, MeShell Ndegeocello , Cheikh Lo, Mano Dibango, Kezia Jones, Baaba Maal, Sade Adu, Taj Mahal und selbstverständlich Femi Kuti und Tony Allen sowie Sängerinnen aus Felas Band. Die Musiker entfernen sich mit ihren eigenen Interpretationen längst bekannter Hits zum Teil deutlich vom Original und zeigen ganz neue musikalische Sichtweisen. Der Erlös dieses Benefizsamplers ist für die AIDS-Opfer in Afrika.
Beim Jazzfest in Moers führt Burkhard Hennen 1985 die African Dance Night ein. Bis 2005 tritt hier alles, was Rang und Namen in der populären afrikanischen Musik hat, auf, beim letzten Konzert im Jahr 2005 u. a. auch Felas Sohn Femi Kuti.
Ginger Baker (1939 – 2019)
Ein absolutes Enfant Terrible unter all den eigenwilligen Musikern seiner Zeit ist Ginger Baker (1939 – 2019). Ursprünglich an Klavier und Trompete ausgebildet, zieht es ihn magisch zum Schlagzeug, und er gilt bis heute als einer der großen Innovatoren des Schlagzeugspiels u. a. durch das Spielen mit zwei Bassdrums und die (fast) perfekte Beherrschung der Ghostnotes, jener sanften Berührung der Snare oder des Schlagfells.
Ginger Baker spielte sie (Ghostnotes) meisterhaft, und manchmal viele hintereinander, damit sie zu einem Summen anschwollen, als fliege gleich ein Bienenschwarmaus seinem Drumset.
David Hugendick: Ginger Baker – Teufel an den Toms, ZEIT Online, 06.10.2019.
Ob in Mr. Ackerbilks Swingtruppe, bei Alexis Korners Blues Incorporated, einer der wichtigsten Keimzellen britischer Blues- und Rockmusiker, in Graham Bond’s Organization, bei Cream, den Space Rockern von Hawkwind, im Jazztrio mit Bill Frisell und Charlie Haden oder ganz „free“ z. B. mit Peter Brötzmann und Sonny Sharrock – Bakers Kreativität scheint schier unerschöpflich.
Doch trotz all der musikalischen Erfolge, der kettenrauchende Heroin-Junkie ist immer wieder pleite – z. B. wegen der enormen Kosten für seinen eigenen Poloclub. Seine Emotionen hat Ginger kaum im Griff, und bei unangenehmen Interviewfragen oder aufmüpfigen Bandkollegen lässt er auch schon mal die Fäuste fliegen. Bereits Mitte der 1960er Jahre prügelt Baker seinen Bandkollegen Jack Bruce als Mitglied aus der Graham Bond Organization. Egal, wenig später fragt er ihn, ob er als Bassist in seiner neuen Band Cream einsteigen will. Die Band mit Ginger Baker, Jack Bruce und Eric Clapton wird in den Augen vieler Kommentatoren die erste Supergruppe der Rockmusik. Das Besondere dieses Trios: Gitarre, Bass und Schlagzeug sind gleichberechtigt starke Instrumente, die jeweils ihren eigenen Anteil an jedem Stück erhalten und so zu langen Improvisationen gerade bei Live-Konzerten einladen.
Er gilt nicht wenigen als der Beste seines Fachs – und zugleich als gemeingefährliches Ekel: Cream-Schlagzeuger Ginger Baker. Der Dokumentarfilmer Jay Bulger hat sich der Legende für seinen Film „Beware of Mr. Baker“ furchtlos genähert. Und mit einer zertrümmerten Nase bezahlt (die ihm Baker mit seinem Gehstock zerdeppert hatte. M.A.).
„Beware of Mr. Baker“ im Kino. Genie und Knochenbrecher. Joachim Hentschel, SZ vom 21.12.2013.
1968 sind wir noch begeistert von der exzellenten Cream Doppel-LP „Wheels of Fire“ mit Hits wie „White Room“ und „Crossroads“ und dem ausschweifenden Schlagzeugsolo von Ginger Baker in „Toads“ auf der zweiten, live eingespielten Platte. Hier zeigen Experimentierfreude und Kreativität sowohl in den surrealen Texten als auch in der Musik mit für die damalige Rockwelt ungewohnten rhythmischen Wechseln das große Können der drei Stars. Doch danach ist die Luft raus. Die Drei langweilen sich immer häufiger durch ihre zahlreichen Auftritte, spielen ellenlange uninspirierte Soli und stecken im kreativen Keller. Dazu flammt die alte Rivalität zwischen Jack und Ginger wieder auf. Kaum ein Auftritt ohne Brüllerei und Anschuldigungen. Die Abschiedstournee durch die USA wird dann 1968 doch noch sehr erfolgreich, vor allem nachdem Deep Purple als Vorgruppe durch The Taste mit ihrem Frontmann Rory Gallagher und durch die britische Prog Rock-Gruppe Yes abgelöst wird. Das ist es dann mit Cream.
Einige Reunion-Konzerte in der Londoner Royal Albert Hall und im Madison Square Garden sind 2005 innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Die DVD dazu ist sehens- und hörenswert. Doch trotz lukrativer Angebote gibt es keine weiteren gemeinsamen Auftritte mehr.
Jack Bruce muss sich einer Lebertransplantation unterziehen und kann nur noch sehr ausgewählte Auftritte absolvieren. Als ihm Joachim Keller, Arrangeur und Dirigent der Big Band des Hessischen Rundfunks, einige Aufnahmen der HR Big Band schickt und einen gemeinsamen Auftritt vorschlägt, lädt Jack Bruce die Band spontan in sein englisches Landhaus ein. Dort entsteht das Programm für den Auftritt beim Frankfurter Jazzfest 2006, einem der vielen Höhepunkte dieses ältesten deutschen Jazz Festivals. Jack Bruce spielt mit der HR Bigband Cream-Stücke und eigene Lieder. Die Musiker strotzen vor Spielfreude und bringen die von Keller exzellent arrangierten Stücke mit ganz neuer Frische zu Gehör. Die Live CD vermittelt einen exzellenten Eindruck dieses ganz besonderen Auftritts.
Doch zurück zu Ginger Baker. Nach den zermürbenden Touren und Drogenexzessen setzt er sich Ende der 1960er Jahre in seinen alten Range Rover und entflieht quer durch Algerien und durch die Sahara bis nach Lagos zu Fela Kuti. Er verlegt seinen Wohnsitz hierher, baut das erste 16-Spur-Aufnahmestudio des Kontinents auf und trommelt von früh bis spät mit Tony Allen, dem musikalischen Direktor und Schlagzeuger bei Fela.
If Ginger wants to play jazz, he plays jazz. If he wants to play rock, he starts Cream. If he wants to play Afrobeat, he moves to Nigeria. Whatever he plays, he brings his own pulse and sound. He understands the African beat more than any other Westerner.
Tony Allen, zit. in: When Ginger Baker and Fela Kuti created Afrika 70’s ‚Live!‘ (faroutmagazine.co.uk)
Auf seiner Tour durch Nigeria mit Felas Africa 70 spielt der „Rock’n’Roller“ vor 150.000 Zuschauern, die ihm begeistert „Oyinbo“ – weißer Schlagzeuger – entgegen singen.
In England ist er kaum noch zu sehen und zu hören. Nach dem Aus von Cream und der leider nur wenige Monate dauernden Existenz von „Blind Faith“, gründet er seine eigene Band Ginger Baker’s Air Force mit Phil Seaman als zweitem Schlagzeuger sowie mehreren Perkussionisten und Sängerinnen. Der Einfluss von Fela Kuti hält schleichend Eingang in die Musik dieser Gruppe, gut zu hören z. B. in Aiko Biaye. Doch 1971 ist auch diese Gruppe wegen Gingers ökonomischer Probleme Geschichte. Und dann treffen sich Ginger und Fela wieder in London.
Fela und Ginger in London und in
Berlin
Kein Wunder also, dass die Zwei auch in London gemeinsam auftreten. Rund 150 Gäste und rund 20 Musiker*Innen und Tänzerinnen füllen das große Studio 3 bis in den letzten Winkel. Fela eröffnet das Konzert mit dem Ruf: „Let’s start what we’ve come into the room to do“. Sie spielen, als ob es kein Morgen gäbe und schenken uns ein bahnbrechendes Album.
This, in part, was the beauty of the manic album Live!. It was entirely uncompromising and driven by some mad bohemian utopian design. However, given the fact that nothing so heady can be carefully orchestrated, it just unfurled in a kaleidoscopic music melee of which everybody was a part and Kuti himself only helmed in a spiritual sense. The result is a mania that somehow changed music, and in many ways, the politics of Africa at large.
When Ginger Baker and Fela Kuti created Afrika 70’s ‚Live!‘ (faroutmagazine.co.uk)
Die Platte enthält vier Stücke, von denen lediglich „Let’s start“ unter zehn Minuten dauert. Bei späteren Plattenaufnahmen nehmen einzelne Stücke oft eine komplette Plattenseite ein. Beasts of No Nation umfasst Vorder- und Rückseite der LP, auf der Vorderseite mit Gesang, auf der Rückseite instrumental. Live fließen beide Teile oft zu einem 40- bis 60-minütigen Set ineinander. Fela entwickelt seine Stücke, wiederholt einzelne Phrasen häufig mit nur kleinen Nuancen vor allem im Trommelspiel. Dem ungeübten (nicht-afrikanischen) Zuhörer entgehen diese Feinheiten, und er mag diese Wiederholungen als langatmig empfinden. Afrikanischen Zuhörern, denen die Sprache der Trommeln geläufig ist, feiern begeistert Felas Auftritte.
Das reiche Repertoire vieler afrikanischer Musikkulturen, bei dem sich die Menschen zum gemeinsamen Handeln zusammenfinden, beweist, wie stark das Bedürfnis nach einem Medium ist, mit dem man die wichtigen Momente im Leben des Einzelnen hervorheben und in die Tradition eingliedern kann. Diese Möglichkeit bietet Musik, genau wie Mythen, Sprichwörter und Brauchtum. Aber Musik geht noch darüber hinaus: im gemeinschaftlichen Vollzug wird Tradition geformt und weitergeben.
Chernoff, a.a.O., S. 54f.
Die später veröffentlichte CD dieses Konzerts von 1971 umfasst zusätzlich das Schlagzeugsolo von Ginger Baker und Tony Allen bei den Berliner Jazztagen 1978. Ginger Baker spielt in Berlin im Anschluss an den Auftritt von Fela Kuti mit einem Teil der Kuti-Band als „Ginger Baker and His African Friends“. Hier entsteht das Schlagzeugsolo, dass dann als Zusatz auf die CD kommt. Mag jeder für sich entscheiden, wie sinnvoll solche Zusammenschnitte sind. Mir wäre eine Doppel-CD, auf einer das London-Konzert und auf der anderen der Berlin-Auftritt von 1978 lieber.
1978 widmen sich die Berliner Jazztage erstmalig dem afrikanischen Kontinent. Werner Wunderlich erklärt stolz den Auftakt einer Reihe von Konzerten mit afrikanischen Musikern, die in den kommenden Jahren fortgesetzt werden sollen. Eröffnet wird der Reigen am 03.11. in der Philharmonie mit Auftritten von Dollar Brand, der später zum Islam konvertiert und sich seitdem Abdullah Ibrahim nennt. Meines Wissens ist Abdullah Ibrahim übrigens der einzige Pianist dem Duke Ellington wegen seiner Erkrankung für einige Zeit seinen Stuhl am Piano überlässt. Dollar tritt zunächst mit Miriam Makeba auf. Anschließend spielt er mit seinem Quartett und Miriam mit ihren African Musicians. Felas Auftritt findet am Folgetag ebenfalls in der Philharmonie statt. Allesamt tolle Konzerte, auch wenn die Reaktionen der Zuschauer sehr unterschiedlich sind.
Das Konzert mit Fela wird parallel per Satellit in Nigeria übertragen. Wunderlich kündigt es als „Cityfolklore aus Nigeria“ an und übergibt dann schnell an einen Afrikaner, der die Musiker und Sängerinnen vorstellt und über Fela und seine politische Mission erzählt: „the emancipation of the black race all over the world.“ Wir wundern uns, dass praktisch sämtliche Tänzerinnen und Sängerinnen Kutis Namen tragen. Nun, Fela hatte 1978 zur Erinnerung an die Zerstörung seiner Republik in einer großen Aktion 27 Frauen geheiratet, fast alle Mitglieder seiner Band.
Wenige Monate vor Felas Auftritt in Berlin kommt es bei einem Konzert in Accra beim Lied Zombie zu Ausschreitungen. Die Behörden verweigern Fela daraufhin die Einreise nach Ghana. Wir sind gespannt, ob es in Berlin auch zu Tumulten kommen wird.
Endlich legt die Band legt los. Der strahlende, klapperdürre Meister erscheint in einem knallig grün, gelb, braunen Anzug. Doch anstatt in sein Horn zu blasen, beginnt Fela mit einem Statement:
As a foreigner I must be happy to be in Berlin, because as a foreigner … I am here to learn something new“ Und dann dreht er den Spieß um. I want to present myself as an African. I want you to look at me as something you do not have any knowledge about. …
Fela Kuti zu Beginn seines Konzerts in Berlin
Mehrfach gibt es Zwischenrufe, auf die Fela reagiert, und auch während des Konzertes sind Buhrufe und Pfiffe immer wieder die „Begleitmusik“.
Musikalisch startet der Abend mit V.I.P. = Vagabonds In Power. Und genau darum dreht es sich in dem Stück.
Nach diesem Lied wendet sich Fela an seine Landsleute in Nigeria. Er hofft, dass sie zahlreich live zuhören, denn er hat Wichtiges mitzuteilen: Und er kündigt über den Sender seine Präsidentschaftskandidatur für das kommende Jahr an. Später heißt es in den Veröffentlichungen der Berliner Festspiele:
Der Auftritt gilt als Höhepunkt der Bandgeschichte und als ihr am besten dokumentiertes Konzert mit einer Vielzahl an Kamerawinkeln, einer Formation von 20 Musiker*innen und 27 Tänzerinnen, die zu Ehren der Göttin Osun auf nackter Haut bemalt waren. Das Berliner Publikum saß dem völlig irritiert und regungslos gegenüber. Die Zeitungen überschlugen sich tags darauf in negativer Kritik, die weiteren Europakonzerte wurden abgesagt und das jähe Ende seiner Band war besiegelt.
Fela Anikulapo Kuti and Africa 70 – Berliner Festspiele
Bereits am Folgetag kommt es zu Auseinandersetzungen in der Band und Tony Allen schmeißt neben anderen Musikern das Handtuch. Fela will die Einnahmen aus der anstehenden Europatournee komplett für seinen anstehenden Präsidentenwahlkampf nutzen. Die Musiker schütteln den Kopf und verschwinden. Die Europatournee entfällt. Fela kehrt am Tag nach dem Berlinkonzert zurück nach Nigeria.
Gemeinsame Aufnahmen der beiden großartigen, aber genauso eigenwilligen und oft unberechenbaren Künstler sind mir seit diesem Konzert und der Live Aufnahme nicht mehr untergekommen. Den einmal eingefangenen afrikanischen Bazillus konnte und wollte Ginger Baker nicht mehr loswerden wie auch seine viele Jahre später aufgenommenen Alben „African Force“ (2001) und „African Force Palanquin’s Pole“ (2006) zeigen.
Fela Kuti ist heute wieder ein zentraler musikalischer Faktor in der „Black Lives Matter-Bewegung“ und in den vielen Clubs, in denen „Afrobeats“ angesagt sind.
Im Muée de la Musique in Paris gibt die Ausstellung „Fela Anikulapo-Kuti – Afrobeat Rebellion“ bis zum 11. Juni einen Einblick in das Denken und Wirken dieser vielschichtigen Persönlichkeit.
Lesestoff
Bender, Wolfgang: Sweet Mother. Moderne afrikanische Musik. Trickster Verlag. München 1985.
Chernoff, John Miller. Rhythmen der Gemeinschaft. Musik und Sensibilität im afrikanischen Leben. Inkl. CD mit zahlreichen Musikbeispielen. Trickster Verlag. München 1994.
Erlmann, Veit (Hrsg.). Populäre Musik in Afrika. Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde Berlin. Neue Folge 53. Abteilung Musikethnologie VIII. Dietrich Reimer Verlag. Berlin 1991.
Hören
Fela Kuti (und Nachfolger)
Fela Ransome-Kuti and The Africa ’70 with Ginger Baker – Live (LP: 1971; CD: inkl. Bonustrack: 1987)
Fela Ransome-Kuti and The Africa ’70 – Gentleman (LP: 1973)
Feli Anikulapo Kuti and Africa ’70 – Zombie (LP: 1977)
Fela Anikulapo Kuti & Egypt 80: Beasts of no Nation (1989)
Die Platten sind auch als CD und als Download erhältlich
Fela Kuti. The Best of the Black President (2005)
Fela Kuti. The Best of the Black President 2 (2013; inkl. DVD)
Auf insgesamt 4 CDs hat Felas Sohn Femi wesentliche Aufnahmen seines Vaters zusammengestellt. Die DVD enthält den Auftritt beim Glastonbury Festival 1984 und ein Interview mit Fela.
Femi Kuti
Fight to Win (2001)
Africa Shrine (2004)
Africa for Africa (2010)
No Place for my Dream (2013)
Seun Kuti
Fela’s Egypt 80 (2008)
A Long Way at the Beginning (2014)
Red Hot + Riot – The Music and Spirit of Fela (2002)
Ginger Baker
Graham Bond Organization – The Sound of 65 (1965)
Cream – Wheels of Fire (1968)
Ginger Baker’s Air Force (1970)
Baker Gurvitz Army – Elysian Encounter (1976)
Hawkwind – Levitation (1980)
Ginger Baker – No Material (1989)
Diese Gruppe bestand nicht einmal eine Woche. Die wild zusammengewürfelte Truppe, ursprünglich für das Ruhr Jazz Festival 1987 vorgesehen, hatte insgesamt drei Auftritte. „Stylistically, some of the players seemed poles apart (where is the common denominator that could reconcile Peter Brötzmann’s and Ginger Baker’s ideas about music??). Nonetheless, in spite of or because of the differences something happened when they improvised together.“ (Steve Lake im Begleitheft)
Ginger Baker – Middle Passage (1990)
Produzent und Bassist Bill Laswell bringt hier Ginger Baker, afrikanische Trommler, Fusion Musiker und einige Bassisten zusammen. Auf jeden Fall eines der ganz starken Alben mit Ginger Baker.
Zum Reinhören
Fela Kuti
Fela Kuti – Water No Get Enemy (1975)
Fela Kuti Africa 70 – Yellow Fever (1976)
Fela Kuti Africa 70 – Live Berliner Jazztage 1978
Fela Kuti – Teacher Don’t Teach Me Nonsense (Live at Glastonbury 1984)
Fela Kuti – Coffin For Head Of State (2005)
Newen Afrobeat ft. Seun Kuti & Cheick Tidiane Seck – Opposite People
Femi Kuti
Truth Don Die
Mixmaster Mike + Lateef And The Gift Of Gab – Kalakuta Show
Red Hot + Riot – The Music And Spirit Of Fela
Ginger Baker
Cream – White Room (1968)
Ginger Baker’s Air Force – Da Da Man (Live 1970)
No Material – Oil Of Tongue (1989)
Ginger Baker – South To The Dust (1990)
Cream – Toad (Royall Albert Hall 2005)
Ginger Baker – Aiko Biaye (Madrid 2014)
Beware of Mr. Baker (Film)
Teil 2: „… und von dieser Zeit“ folgt.
Von der Schwierigkeit über Musik zu schreiben: Du hörst und hörst und hörst und hörst. Doch Du vergisst das Schreiben. Hoffentlich wird es demnächst „besser“.