Juli 2021
 Musik

Viva Chile

Oktober 2019/20. In Chile explodiert der Kessel, der seit 30 Jahren von den in den USA ausgebildeten „Chicago Boys“, radikalen Neoliberalisten, mit einer weitgehend pauperisierten Bevölkerungsmehrheit auf der einen und einer extrem reichen Elite auf der anderen Seite befeuert wird. Wasser, Strom, Gas, Transport und Bildung sind in privater Hand, die Preise nach oben geschnellt. Praktisch sämtliche Institutionen des Staates sind korrupt, von der Polizei über das Militär bis hin zur Politik. Die Erhöhung der Metropreise im Oktober war nur noch der Tropfen auf den heißen Stein. Massendemonstrationen nicht mehr nur von Schülern und Studierenden, Militärpräsenz und -gewalt auf den Straßen, Massenverhaftungen und Folter – viele Bilder erinnern in diesen Tagen an den Putsch von 1973 gegen den gewählten Präsidenten Allende.

Erst im Herbst 2020 ist es soweit: die von Pinochet 1980 unterschriebene Verfassung soll durch eine neue ersetzt werden. Ein vom Volk gewähltes paritätisch mit Frauen und Männern besetztes Gremium soll eine „demokratische Verfassung“ ausarbeiten, die 2022 zur Abstimmung kommen soll. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung von Mai 2021 bringen den konservativen Kräften eine herbe Niederlage. Damit ist der Weg frei, die aus der Zeit der Pinochet-Diktatur bestehende Verfassung auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

Violeta Parra (1917 – 1967)

Noch kurz vor ihrem Freitod mit nur 50 Jahren schreibt sie „Gracias a la Vida“, ein Lied, das in Chile vor allem durch Victor Jara und Inti-Illimani, weltweit durch Mercedes Sosa, Joan Baez und die hierzulande wenig bekannte Holly Near berühmt wird. Das Lied erscheint auf Parras letzter Platte mit dem bezeichnenden Titel „Las últimas composiciones“.

Hier nur die letzte Strophe von Gracias a la Vida:

Gracias a la vida que me ha dado tanto
Danke an das Leben, das mir so viel geschenkt hat.

Me ha dado la risa y me ha dado el llanto
Es gab mir das Lachen und es gab mir das Weinen

Así yo distingo dicha de quebranto
So kann ich das Glück vom Leid unterscheiden

Los dos materiales que forman mi canto
Die beiden Stoffe, die mein Lied formen

Y el canto de ustedes que es el mismo canto
Und euer Gesang ist der gleiche Gesang

Y el canto de todos que es mi propio canto
Wie der Gesang aller mein eigener Gesang ist

Als eine der wichtigsten Vertreterinnen der „Nueva Canción“ wird Violeta Parra weit über Chile hinaus bekannt. Die Nueva Cancion breitet sich bereits seit den 50er Jahren von Argentinien, Chile und Uruguay aus und wird bald überall in Zentralamerika und auf Kuba gesungen. Sie verbindet viele traditionelle Stile wie die andine Musik, kubanische Elemente, Musica Negra und die Cueca aus Chile, eine ländliche Liedform mit explizit aufklärerischen und politischen Texten.

Angeleitet von ihrer Mutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes wieder als Sängerin in Bars, im Circus, in kleinen Veranstaltungssälen und in Peñas auftritt, um sich und ihre vielen Kinder am Leben zu halten, beginnt Violeta bereits mit 15 Jahren selber aufzutreten. Das Gitarre spielen bringt sie sich mit neun Jahren selber bei; ihr Vater, Musiklehrer, wollte nicht, dass seine Kinder in seine Fußstapfen treten. Peñas sind Orte des kulturell-politischen Zusammenlebens. Musik von jung und alt, nur instrumentell oder mit Gesang, bildet das Zentrum dieser Treffen. Hier fühlt sich Violeta Parra sowohl musikalisch als auch politisch zuhause.

Die dreißiger Jahre sind die Zeit der Primera Onda Folklorica, einer Hochzeit des Volkslieds, der Musik der Landarbeiter und des städtischen Proletariats. Violeta sammelt auf ihren Reisen durch Chile einige tausend Lieder des Volkes und beginnt eigene Lieder zu schreiben, voller Zorn über die bestehenden Verhältnisse in Chile, voller Liebe zu den Menschen. Sie wird zur Ikone, deren Lieder jedes Kind kennt und singt.

Tourneen führen sie durch die ganze Welt, seit Mitte der 1950er Jahre mehrfach auch nach Europa. In Paris, wo Violeta Parra für einige Jahre Station macht, lernt sie die damalige Künstleravandgarde um Sartre und Picasso kennen. Sie trifft Edith Piaf, ihr großes Idol.

Während ihrer kurzen unglücklichen Ehe kommen Isabel und Ángel zur Welt, mit denen Violeta später zahlreiche gemeinsame Auftritte im In- und Ausland hat. Angeregt durch Isabel und Ángel richtet Violeta Parra 1965 eine eigene Peña ein. Sie nennt sie „Carpa de la Reina“, „Zelt der Königin“.

Ihr Leben empfindet sie als eine Rückkehr zur Natur, zur Erde; sie freut sich auf den engeren Kontakt zum Publikum. Doch die Realität sieht anders aus: es kommen nur wenige Besucher, die ökonomische Lage wird immer ernster, Gilbert Favre (Violetas große letzte Liebe, MA) eröffnet in Bolivien eine eigene Peña … Violeta Parra, von den Kämpfen erschöpft, beginnt ihren Besitz zu verteilen.

Adriane von Hoop in FemBio – Frauenbiographieforschung zum 100. Geburtstag von Violeta Parra.

Doch Violeta Parra ist nicht nur eine stilbildende Musikerin. Nach ihrem ersten Europaaufenthalt und einer ausgedehnten Tournee durch Süd- und Mittelamerika fesselt sie eine Hepatitis Erkrankung wochenlang ans Bett. In dieser Zeit entdeckt sie ihre Liebe zur Malerei, zum Töpfern, Sticken und Weben. Erst nachdem das Musée du Louvre Violeta Parra 1964 als erste lateinamerikanische Künstlerin präsentiert und ihren Arpilleras eine Einzelausstellung widmet, findet dieser Zweig ihrer Begabung auch in Chile Beachtung. Arpilleras sind Patchworkarbeiten, bei denen Stoffreste auf Sackleinen zu meist bunten Bildern zusammengenäht werden. Nach ihrem Tod werden nach und nach bedeutende Werke, Skulpturen, Arpilleras, Webarbeiten, Ölbilder zurückgekauft und in der Fundación Violeta Parra geschützt.

in Gedenken an ihren Geburtstag wird der 4. Oktober zum „Día de la música y de los músicos chilenos“ ernannt. An diesem Tag ist das ganze Land eine einzige Bühne voller Musik unterschiedlichster Art, und die Menschen singen, tanzen und feiern ihre Violeta und die Freude am Leben.

In Deutschland widmet sich 2017 das ABYA YALA Festival intensiv dieser großartigen Künstlerin.

Unbedingt sehenswert ist die mehrfach ausgezeichnete Filmbiografie von Andrés Wood: Violeta Parra – Violeta se fue a los cielos – aus dem Jahre 2011 mit Francisca Gavilán in der Titelrolle (als DVD erhältlich). Zitat aus dem Film:

Das künstlerische Schaffen
ist wie ein Vogel ohne Flugplan.
Sie fliegen nie in direkter Linie.

Verwendet die Rhythmen, wie sie aus euch herauskommen, probiert die verschiedensten Instrumente aus, befreit euch, schreit, anstatt zu singen, blast die Trommel und trommelt die Trompete. Das Lied ist ein Vogel ohne Flugplan, es hasst die Mathematik und liebt die Strudel.

Cantaré. Songs aus Lateinamerika. Verlag Neues Leben, Berlin 1978.

Toda Violeta Parra (1960)

Recordando a Chile – Una Chilena en Paris (1965)

Victor Jara (1932 – 1973)

Der Che Guevara der Gitarre, mit ersten Auftritten bei Ángel Parra, Violetas Sohn und im Café von Violeta Parra. Folksänger, Theatermensch und politischer Aktivist. Von der Junta ins Estadio Chile verschleppt. Dort singt er für die tausenden Leidensgenossen um sich herum. Wenige Tage nach seiner Verhaftung, am 16.09.1973, brechen ihm die Söldner eine Hand. Jara singt „somos cinco mil“ – wir sind 5000. Er wendet die Gitarre, singt und spielt weiter. Sie brechen ihm auch die andere. Er singt weiter, stimmt „Venceremos“ an. Ihre Kugeln zerfetzen ihn. 30 Jahre nach seinem Tod wird das Estadio in Estadio Victor Jara umbenannt. 45 Jahre nach seiner Ermordung werden die letzten seiner Folterknechte verurteilt. Gemeinsam mit Violeta Parra gehört er zu den wichtigsten Begründern der Nueva Cancion. Seine Lieder besingen das Leben der Chilenen, der einfachen Leute, Bauern und Landarbeiter. Sie handeln von sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

Canto Libre (1970)

La Poblacion (1972)

Yo no canto por cantar
ni por tener buena voz,
canto porque la guitarra
tiene sentido y razón.

Tiene corazón de tierra
y alas de palomita,
es como el agua bendita,
santigua glorias y penas.

Aquí se encajó mi canto,
como dijera Violeta,
guitarra trabajadora
con olor a primavera.

Que no es guitarra de ricos
ni cosa que se parezca.
Mi canto es de los andamios
para alcanzar las estrellas.

Que el canto tiene sentido
cuando palpita en las venas…
del que morirá cantando,
… las verdades verdaderas.

No las lisonjas fugaces
ni las famas extranjeras
sino el canto de una lonja
hasta el fondo de la tierra.

Ahí donde llega todo
y donde todo comienza,
canto que ha sido valiente,
siempre será canción nueva,
siempre será canción nueva,
siempre será canción nueva…

Ich singe nicht bloß, um zu singen
Auch nicht, weil ich eine gute Stimme habe,
Ich singe, weil die Gitarre
Recht hat und Sinn macht.

Sie hat ein Herz aus Erde
Und die Flügel eines Täubchens,
Sie ist wie geweihtes Wasser,
Weiht Ruhm und Leid.

Hier passt mein Gesang,
Wie Violeta sagen würde,
Arbeitsame Gitarre
Mit dem Geruch von Frühling.

Es ist keine Gitarre der Reichen
Und auch nichts, das so aussieht.
Mein Gesang passt zu den Baugerüsten,
Um die Sterne zu erreichen.

Auf daß der Gesang Sinn macht,
Wenn er in den Venen pulsiert…
Dessen, der singend sterben wird,
…die wahrhaftigen Wahrheiten singend.

Nicht die flüchtigen Schmeicheleien
Noch der Ruhm im Ausland
Sondern der Gesang dieses Streifen Lands
Bis in die Tiefe der Erde.

Dort, wo alles ankommt
Und wo alles beginnt,
Gesang, der mutig war,
Wird immer ein neues Lied sein,
Wird immer ein neues Lied sein,
Wird immer ein neues Lied sein…

Quilapayún (1965) und Inti-Illimani (1967)

Um einen Eindruck der Poesie von Victor Jara zu bekommen, sein „Manifesto“:

Sie verbinden die traditionelle Musik der Anden mit der „Nueva Cancion“. Beide Gruppen spielen zunächst vorwiegend an Universitäten. Die Zusammenarbeit mit Ángel Parra und vor allem mit Victor Jara bringen sie einem größeren Publikum näher. Noch wenige Tage vor dem Putsch spielen Quilapayún auf einer Massenprotestaktion für Allende und gegen die drohende Diktatur. Ihr Lied „El pueblo unido“ wird zum Symbol für Aufbruch und Widerstand genauso, wie „Venceremos“ von Inti-Illimani. Beide Gruppen befinden sich am Tag des Putsches auf Tournee, Quilapayún in Frankreich, Inti-Illimani in Italien. Ende der 80er Jahre spalten sich beide Gruppen. Je ein Teil kehrt dauerhaft nach Chile zurück; der andere Teil bleibt in Europa.

Quilapayún

Por Vietnam (1968), Vivir como él (1971); El pueblo unido jamás será vencido (1975)

Inti-Illimani

Viva Chile! (1973); Leyenda mit John Williams und Paco Peña (1990)

Und heute, im 21. Jahrhundert

Ja, auch in Chile hören die Menschen Julio Iglesias und Lady Gaga. Aber Violeta Parra und Victor Jara sind noch immer in aller Munde, und auch die Teenager kennen und hören sie. Junge Gruppen, wie Fuente de Barro und Terranauta stehen für Diversität, für ein „No“ zu Neoliberalismus und Sexismus. 2017 gründen die Fuente-Schwestern die Gruppe Fuente de Barro. Ihr erstes Album Aún (2019) mischt Folk, Soul, Fusion zu einer spannenden Weltmusik. Terranauta verquirlen auf ihrer ersten CD La Otra Ruta (2020) Reggae und Dub mit sozialkritischen Texten und „psychodelischer Einfärbung“. Die 2010 gegründete Gruppe Newen Afrobeat bewegt sich ganz in der Tradition des großen Fela Kuti aus Nigeria, einst vom Rolling Stone als der „gefährlichste Musiker der Welt“ bezeichnet. So heißt denn auch ihr zweites 2014 erschienenes Album Newen plays Fela. Sie mischen den Afrobeat Felas mit musikalischen Elementen der Ureinwohner Chiles. Newen heißt in der Sprache der Mapucho „Stärke“. Und Kraft und Stärke strahlt ihre schweißtreibende Tanzmusik auch aus. International am Bekanntesten ist vermutlich Ana Tijoux, 1977 in Frankreich geboren, besucht sie 1983 erstmalig ihre Großeltern in Chile, wo sie seit 1992 dauerhaft lebt und arbeitet. Spätestens mit ihrer CD 1977, in der sie ein Bild ihrer Kindheit zeichnet, verschafft sie sich international Beachtung und Anerkennung. Hip-Hop und Rap sind ihre Ausdrucksformen für ihre oft anspruchsvollen Texte. In ihren Liedern greift sie soziale Missstände in Chile auf und solidarisiert sich z. B. mit den Protesten der Schüler und Studierenden von 2011 (CD La Bala). Mit ihrer CD Vengo (2014) vereint sie indigene und moderne Rhythmen, Texte gegen Gewalt, für die weibliche Befreiung und gegen das nicht nur in Chile noch immer weit verbreitete Patriarchat.

Aber auch außerhalb des Landes ist der Einfluss von Violeta Parra und Victor Jara nicht zu überhören. Erst 2020 hat sich der Waliser James Dean Bradfield von den Manic Street Preachers, die im Februar 2001 als erste westliche Band auf Kuba spielten, mit Even in Exile dem Leben und Sterben von Victor Jara gewidmet. Texte von Victor Jara und Lyrik von Patrick Jones, Bruder des Manic Bassisten Nicky Wire, ergeben ein spannendes Album, das gar nicht erst versucht, die Musik von Victor Jara zu kopieren, sondern die eigenständige musikalische Welt Bradfields mit den lyrischen Texten verbindet oder auch bei rein instrumentalen Stücken neue Kombinationen schafft. So klingt Jaras instrumentales Mahnmal für die Geknechteten, „La Partida“ bei Bradfield wie die Melodie zu einem neuen Morricone Western.

Hier der Text von Without knowing the end (Joan’s Song) in Bradfield-typischem Gitarrenrock, gewidmet der Witwe von Victor Jara:

Without knowing the end
I am and I will be
Miss Compañera
On who they could depend
Without being alive
Returns a voice from the condemned
I walk this earth beside
My eternal friend

This life I had to defend
Without knowing the end

What was torn away
Chile my homeland
With blood on my feet
And blood on your hands
In the day of the dead
A ghost dance I will teach
A living lament
But I still believe

This life I had to defend
Without knowing the end
I lived I danced I loved and I fought
This life I had to defend
Without knowing the end

Zum Reinhören:

Violeta Parra: Gracias a la vida

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Violeta Parra: Verso por la niña muerta

Sie schrieb dieses Lied nach dem Tod ihrer zweijährigen Tochter Rosita Clara. Sie starb, während Violeta in Europa weilte.

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Victor Jara: Manifesto

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Quilapayún + Inti-Illimani: El Aperecido

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Fuente de Barro: Weon Wey

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Terranauta: Gigante Egoista

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Newren Afrobeat: Opposite People

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Ana Tijoux: Antipatriarca

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James Dean Bradfield: Without knowing the end (Joan’s Song)

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Lesen

Luis Sepulveda: Der Schatten dessen was wir waren. Rotpunkt Verlag Zürich, 2011.

September 2012. Die Subway rattert mit mir und den Protagonisten von Luis Sepulveda von Brooklyn bis Harlem. Gefangen in seinem „Schatten“ huschen die Haltestellen an mir vorbei. Erinnerungen an damals, an unseren studentischen Protest gegen die Diktatur in Chile, an BWL-Professoren, die sich Freunde Pinochets nennen, an bayerische Minister, die das Estadio Chile mit seinen tausenden Verschleppten und Gefolterten als angenehmen Aufenthaltsort im warmen Herbst titulieren. Steige erst aus, nachdem die 156 großbedruckten Seiten verschlungen sind. Macht nichts. Bahnsteigwechsel. Und auf geht’s zurück.

Es beginnt mit dem ersten Banküberfall in der Geschichte Santiagos, ausgeführt von Anarchisten im Juli 1925 und dem Freitod des Großvaters, dessen Enkel, inzwischen selber alt und grau, sich auf den Weg macht, ganz in Schwarz, den Revolver unter der linken Achsel. „Ich bin der Schatten dessen, was wir waren, und solange es Licht gibt, existieren wir“ werden seine letzten gemurmelten Worte sein.

Ein Paar streitet sich. Sie wirft den heißgeliebten Dual-Plattenspieler aus dem Fenster, gefolgt von Büchern und fast von einem Stapel Quilapayun-Platten, die er gerade noch vor der Zerstörung retten kann. Doch der Plattenspieler leistet ganze Arbeit und zerschmettert den Kopf eines Mannes.

35 Jahre nach dem blutigen Putsch von Pinochet sind viele Exilanten wieder in die Heimat zurückgekehrt, wollen da weitermachen, wo die Schergen sie gezwungen hatten aufzugeben, wollen den Geist Allendes und die Poesie Nerudas wiederaufleben lassen. Doch ihre Romantik fällt aus der Zeit. Ernüchterung verdrängt nach und nach ihren Elan. Zurückbleiben Erinnerungen und „Der Schatten dessen, was wir waren“.

Mit sanfter Ironie erkennen drei alte Männer, dass auch sie nur noch Schatten ihrer selbst sind. Zurückgekehrt aus dem Exil und enttäuscht von einer Heimat, die nicht mehr die ihre ist, in der der verhasste Kapitalismus sich im Geld und im Dreck wälzt, wollen sie einen Coup landen und die noch immer verschollene Beute des Banküberfalls von 1925 finden. Doch leider kommt der so dringend benötigte vierte Mann, ihr Fachmann, nicht. Also vertreiben sie sich die Zeit mit aufgewärmten Diskussionen über Sozialismus und Kommunismus. Zu allem Übel beginnt auch noch ein Inspektor zu ermitteln und ein Fremder taucht bei den Freunden auf. Jetzt ist Eile geboten.

Luis Sepulveda, Sohn eines kommunistischen Restaurantbesitzers und Enkel eines anarchistischen Großvaters, wird Teil der Leibgarde von Präsident Salvador Allende bis zu dessen Freitod am 11. September 1973, dem Tag des blutigen Pinochet-Putsches. Es folgen Verhaftung, Gefängnisstrafe und Hausarrest, Flucht, Widerstandstheater aus dem Untergrund, erneute Verhaftung, Gefängnis und erneute Flucht, diesmal nach Ecuador. Und wieder Theater gegen die Gewaltherrscher in Süd- und Mittelamerika. Dann Asyl in Deutschland. Die letzten 25 Jahre verbringt Sepulveda in Spanien. 2020 stirbt er im Alter von 70 Jahren an den Folgen einer Covid-Erkrankung.

In jeder Zeile seines Romans, in den Nuancen, im Witz, der Ironie und der Trauer über verloren gegangene Träume spürt man die sehr persönliche Erfahrung des Autors. „Ich will denen eine Stimme geben, die versucht haben, die Welt zu verändern“ sagt Sepulveda. Und damit meint er auch sich. Nie gibt er diesen Kampf auf, streitet in Deutschland wider die allgegenwärtigen faschistischen Tendenzen, heuert auf einem Greenpeace Schiff an und erhebt seine Stimme gegen den Neoliberalismus in Chile, der selbst das Trinkwasser und das Meer privatisiert. „Es gibt keine Rebellion, die gerechter und demokratischer sein könnte als die Rebellion heute in Chile“ wettert er im Dezember 2019 in Le Monde diplomatique.