Mai 2023
 Geschichten

Surprise! Surprise! Vom klösterlichen Leben

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber wenn ich am Schreibtisch sitze und mich voll konzentriere, dann will ich nicht gestört werden. Kein Klingeln an der Haustüre, kein bimmelndes Telefon – nichts und niemand soll mich stören. Aber manchmal erwischt es mich doch, und der Autopilot schlägt zu, schickt den Finger zum Telefon, und schon hängt das blöde Ding am Ohr.

Das ist mir Gott sei Dank auch im Spätherbst 2011 passiert. Ich grübelte über einem neuen Training. Mein Telefon brummt. Ich gehe ran.

„Guten Tag Herr Averkamp, Bolz hier. Wir benötigen einen Coach. Haben Sie Zeit?“

Wer war das denn? Hildegard Knef? Nö, die Stimme war noch tiefer, männlich, dunkel, rauchverhangen. Und knapper konnte die Ansage wohl auch nicht sein.

Ich bleibe dann auch recht kurz angebunden: „Grundsätzlich ja, Herr Bolz; ich habe nur gerade jetzt keine Zeit. Passt es Ihnen heute um 18:00. Dann können wir alles in Ruhe besprechen.“

„Können wir uns nicht treffen? Ich würde Sie gerne persönlich kennen lernen und Ihnen mein Anliegen darlegen. Ich bezahle auch die Reisekosten. Ich hole Sie am Flughafen in Hannover ab. Und dann fahre ich uns ins Kloster.“

Was, ins Kloster? So ein Mist. Ich hatte die Äbtissin an der Strippe. Und die spreche ich mit Herrn Bolz an. Die korrigiert mich nicht einmal. Blöde Kuh. Hätte die sich nicht ordentlich als Äbtissin vorstellen können? Und wieso hatte die überhaupt so eine tiefe Stimme?

Mein Freund Karl-Martin hatte mir den Anruf angekündigt. Seine Schwiegermutter leite ein Kloster mit einem Hühnerstall voller verrückter Weiber. Die bräuchte dringend Hilfe. Soweit o. K.; aber, dass die Äbtissin wie Osmin in Mozarts Entführung aus dem Serail oder wie Hagen in Wagners Götterdämmerung im tiefsten Bass klingt, hatte er dann freundlicherweise verschwiegen.

Ich fliege nach Hannover. Die Äbtissin steht in der Ankunftshalle, auffällig groß gewachsen, kein Nonnengewand, blauer Rock bis kurz übers Knie, flache braune Schuhe, weiße Bluse und blauer Blazer. Offensichtlich nur schwer bezähmbare, fast weiße Mähne. Hinter ihrer randlosen Brille strahlende Augen, die fast ein wenig schelmisch blitzen. Die Lippen mit einem Hauch von Lachsrot betont. Sie kommt mir einige Schritte entgegen und begrüßt mich mit unmittelbar einnehmender Herzlichkeit.

„Kommen Sie, gehen wir zum Wagen. Das Frühstück wartet.“ Kaum atme ich außerhalb des Terminals halbwegs frische Luft, zündet sie sich eine Zigarette an. Ich bin irritiert.

Darf eine Äbtissin rauchen?

Tabak ist mein Leben
dem hab ich mich ergeben
Tabak ist meine Lust
Und eh ich ihn sollt lassen
viel lieber wollt ich hassen
selbst eines Knaben Kuss

Volkslied, 19. Jh., Verfasser unbekannt; abgewandelt: im Original steht Mädchen

„Am besten legen Sie Ihre Taschen auf den Rücksitz. Der Kofferraum ist voll.“ Ein Blick ins Wageninnere reicht. Wenn der Rücksitz nicht als voll gilt, wie sieht es dann erst im Kofferraum aus? Der Innenraum ist völlig zugemüllt, leere Kaffeebecher, leere Zigarettenschachteln, einzelne Zigaretten in Menge, Papierfetzen, Schuhe, Lappen – ein einziges Tohuwabohu. Meinen Handkoffer quetsche ich auf den Rücksitz, die Aktentasche landet zu meinen Füßen.

Motor starten, Kippe an, Gummi geben. Die Äbtissin kennt auf der Straße keine Gnade und lässt sich nur von ihrem kleinen elektronischen Helfer vor Blitzern warnen.

„… egal, ob im Navi integriert oder auf dem Handy aktiviert: Radarwarner sind verboten. Wer sie verwendet, riskiert ein Bußgeld“, so der ADAC.

Was schert’s die rasende Äbtissin.

Angekommen geht es mit forschem Schritt durch die beeindruckende Klosteranlage. Die war nach dem großen Brand von 1372, der das gesamte Kloster bis auf die Grundmauern zerstörte, nach und nach im sog. Backsteingotik-Stil neu erbaut worden.

Die Äbtissin weist mal nach rechts, dann nach links. Hier die extern betriebene Fachschule, dort das Sozial-Café. Hier der von ihr so geliebte Kräutergarten; dort das berühmte Museum für sakrale Textilkunst. „Das müssen Sie bei einem längeren Aufenthalt unbedingt besuchen.“ Ganz nebenbei spricht sie mit einem Herrn über Liegenschaftsangelegenheiten. Was für ein Energiebündel.

Kurzer historischer Einschub:

1172 hatte sich an diesem Ort eine Gruppe frommer Frauen unter der Leitung von Hildeswidis von Markboldestorp niedergelassen. Halt, wie war das? Hildeswidis von Markboldestorp. Wie die wohl aussah? Vielleicht wie die molligen Wagner-Walküren mit vergleichbar denkwürdigen Namen, etwa Malvina Schnorr von Carolsfeld. Die hatte 1865 in der Uraufführung der Wagnerschen Liebesoper Tristan und Isolde die Isolde gesungen. Ihr Gatte übrigens den Tristan. Aber vielleicht war Hildeswidis auch ein dünner Hering, knochig, durchtrainiert und nicht von zu viel Zuckernascherei geprägt. Schade, dass ich kein Bild von ihr gefunden habe.

Auf jeden Fall gründete sie mit Erlaubnis des Bischofs und von Heinrich dem Löwen das Kloster Kühne.

Die Damen um Hildeswidis gehörten keiner besonderen Ordensform an; sie orientierten sich aber an den Regeln des nahegelegenen Benediktinerklosters für Männer. Und das hieß vor allem Bete und Arbeite, Bete und Arbeite, Bete und Arbeite. Und sie sollten ihrer Hildeswidis gehorchen.

Ein Häuflein kleiner Mönche
Zog in ein wildes Tal.
Sie wollten Gott gefallen
Durch Arbeit mal zu mal.

Sägen, hämmern, mauern, beten,
Pflanzen, gärtnern, brauen, beten,
Schreiben, malen, singen, beten –
So ging es das ganze Jahr.

Ora et labora – und freue dich daran.
….

Text und Musik Heinz Reinlein 2018

1711 brachte dem Kloster die entscheidende und bis heute wirkende Wende: Herzog Georg Ludwig von Braunschweig-Kühneburg, der spätere König Georg I., war, wie viele Adelige vor und nach ihm mit der Frage konfrontiert „Was mache ich mit meinen Töchtern, die ich nicht verheiraten kann?“ Georg hatte eine Tochter aus der Ehe mit seiner Cousine Dorothea und drei aus der Beziehung zu seiner Mätresse Melusine von der Schulenburg. Angesichts seines Standes ließen sich diese Töchter durchaus verheiraten. Da hatte es der lebens- und sinnenfrohe Landadel schon viel schwerer. Gerade für sie brachte das Kloster die ersehnte Lösung. Aber es sollte eine komfortable Lösung sein und für die Töchter möglichst wenig Einschränkungen bedeuten.

Herzog Georg wandelte das katholische Kloster Kühne in ein evangelisches Damenstift um, ließ allerdings den Namen bestehen. Die von Anfang an gezahlte großzügige Förderung setzte er fort.

Zurück ins Hier und Jetzt:

Die damals eingebrachten Mittel sind auch heute noch Grundlage des Klosterfonds unter dem Dach der Klosterkammer. Aus dem Fonds erhalten unter anderem das Kloster Kühne und die weiteren zugehörigen Klöster die notwendigen Finanzmittel für Personal und den Erhalt der Liegenschaften. Die Klosterkammer besitzt immerhin 40.000 Hektar Flächen und Wald und ist bundesweit mit fast 17.000 Erbbaurechten der größte Vermarkter dieser Rechte. 40.000 Hektar sind übrigens mehr als 65.000 Fußballfelder.

Die kaufmännische Aufgabe der Äbtissin besteht darin, durch eigenes Geschick weitere Einnahmen zu generieren. Und Äbtissin v. d. Bolz ist eine ausgesprochen geschickte Klosterchefin. Führungen, Café, Verkauf von Devotionalien wie CDs und Schnaps, Hochzeits- und andere Feiern, Lesungen und Musikveranstaltungen gehören auch in vielen anderen Klöstern zum Alltagsgeschäft. In Kloster Kühne stolpere ich aber über Kabelberge, Beleuchtungsanlagen und Filmequipment der Aufnahmecrew zu einer weiteren Folge der ARD-Telenovela „Rote Rosen“. Monate später treffe ich Mario Adorf, der im Kloster gerade wieder für einen Krimi vor der Kamera steht und gut gelaunt mit der Äbtissin plaudert. Ich schätze, auch für die Äbtissin gilt: Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett. (Deutsch-österreichischer Film von 1962)

Bei so viel kaufmännischem Geschick willst Du aber auch nicht alles an die Aufsichtsbehörde abliefern. Die zweite Kunst besteht also darin, einen guten Batzen des Geldes für die besonderen Belange der Damen des Klosters zu reservieren. Genaues zu den besonderen Belangen erfahre ich von der Äbtissin nicht, dafür aber von der Priorin. Dazu später mehr.

Dass sie auch sparsam sein kann, zeigt mir die Äbtissin bei einem meiner Besuche. In Ihrem Kaminzimmer steht ein gewaltiger Eichenschrank, gefüllt vor allem mit zahlreichen Gläsern, Hand- und Betttüchern. Für diesen Schrank benötigt sie neue Einlegeböden. Der Hausmeister will welche kaufen. Die Äbtissin packt ihn, geht mit uns raus zu einer Art Schuppen. Dort stapeln sich einige Särge, die als Zwischenstation benutzt werden. Stirbt eine Konventualin, wird sie zunächst in einen dieser Särge gelegt, bis der finale Sarg für die feierliche Aussegnung und Beisetzung geliefert ist. Die Äbtissin zeigt auf die Särge; der Hausmeister versteht. Ich bin irritiert. Doch wie heißt es schon in Schillers Wilhelm Tell: Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Zu meiner Zeit war ich von neun Konventualinnen im Kloster umringt. Das sind Frauen, oder um im Sprachgebrauch des Klosters zu bleiben, Damen, die sich dort einfinden, um ein Leben in einer Frauengemeinschaft zu führen. In gewissem Sinne also eine christliche Frauen WG. Jugendliche Fünfzigjährige treffen dort auf jung gebliebene Neunzigjährige. Ledige, Verwitwete, Geschiedene, Topmanagerin, Übersetzerin, alter Adel, ein buntes Gemisch an Frauen, die letztlich nur Weniges eint: sie sind evangelisch und ledig.

Im Unterschied zu früher, als ausschließlich Adelige in den Mauern des Klosters lebten, ist inzwischen selbst die Leitung des Klosters nicht mehr zwingend einer Adeligen vorbehalten, auch wenn das die eine und andere Konventualin durchaus bedauert und dunkle Wolken am fernen Himmel aufziehen sieht.

Chefin dieser Kommune ist die Äbtissin, deren Wort Gesetz ist, allerdings ohne die tödliche Komponente eines Charles Bronson.

Manche Konventualin beklagte sich im Laufe meiner Jahre dort, die Äbtissin sei zu weich, lege zu viel Wert auf von allen getragene Entscheidungen.

Unser Kloster ist doch kein Parlament. Die Äbtissin muss wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Und das muss sie uns auch klipp und klar sagen. Befehl und Gehorsam gehören nicht nur ins Militär. Wozu haben denn unsere Äbtissinnen den militärischen Rang eines Obersts?

Ich dachte an Billy Wilders wunderbaren Film „Eins, zwei, drei“. Da quittiert die Ehefrau des Coca-Cola-Bosses MacNamara dessen Anweisungen mit einem ironischen „Jawohl, mein Führer“.

Die Hausordnung zwingt die Damen lediglich außerhalb ihrer Wohnung in Rock oder Kleid. Die Klostertracht, das fünfteilige Habitat mit dem langen schwarzen Umhang, wird nur zu offiziellen Anlässen getragen. Vor allem Frau Sugarta, die mit Abstand älteste, fast zerbrechliche Konventualin, erschien mir in ihrem schwarzen Umhang fast wie eine Kopie von Juliette Gréco als Belphègor aus dem Straßenfeger „Belphègor oder das Geheimnis des Louvre“. Hunde sind nicht gestattet; doch mit der ersten Ausnahme während meiner Zeit dort, schafften es immer mehr Köter in die Wohnung der Konventualinnen und auf den Rasen des Klosters, nicht immer zum Wohlgefallen der Gärtner. Der Kontakt zu Familie und Freunden bleibt bestehen; wechselseitige Besuche auch jenseits des Atlantiks sind kein Problem. Kino-, Theater- und Konzertbesuche erfolgen ganz al Gusto. Von Besuchen in Clubs oder wilden Partys ist mir nichts untergekommen. „Das wilde Leben“ der Uschi Obermeier war dann Gottseidank wohl jenseits des klösterlich Vorstellbaren.

Das typische Bild einer klösterlichen Zelle vor Augen, folgte ich der Äbtissin bei meinem ersten Besuch in ihre Kemenate – kleines spartanisch eingerichtetes Zimmer mit schmalem Bett, Nachttisch und Schreibtisch, weiß gekalkte Wand, Klo und Dusche auf dem Flur. Pustekuchen! Wie konnte ich nur so antiquiert denken. Die Wohnung ist überwältigend groß und komfortabel eingerichtet. Entrée, großzügiger Salon mit offenem Kamin, Esszimmer, Wohnraum, Küche, mehrere Bäder, Schlafzimmer. Ich weiß nicht, wie viele Räume es sind. Ja, hier lässt es sich gut leben. Auch jede Konventualin hat ihre eigene Wohnung von etwa 70 bis 80 m², die sie nach eigenem Gusto ausstattet.

Wir nehmen am bereits eingedeckten Esstisch Platz. Die Eier hatte die Äbtissin schon vor ihrer Fahrt nach Hannover gekocht und seit rund zwei Stunden in Handtüchern warmgehalten. Die Brötchentüte reißt. Einige Croissants fallen auf den vermutlich wertvollen, aber ziemlich staubigen Orientteppich. Zigarettenasche weht durch den Raum. Die Wurst sieht bereits ziemlich mitgenommen aus. Die Marmelade scheint in Ordnung. Der Kaffee ist lauwarm. All das ist der Äbtissin ziemlich egal. Sie futtert mit gutem Appetit, ich eher mit langen Zähnen.

Dann sprechen wir im Detail über den Auftrag, die Schwierigkeiten der Klosterleitung etc. Abends treffen wir uns mit den Konventualinnen zum gemeinsamen Abendbrot. Zu Beginn gibt es ein kurzes Dankgebet von nicht nur gefühlt 30 Sekunden. Anschließend speisen wir, Brot, Butter, Wurst, Käse, Waser, Weiß- und Rotwein. Ich beobachte die Damen. Die Damen beobachten mich. Die Konversation ist nichtssagend und oberflächlich. Kein Wunder, kennt mich hier doch noch niemand.

Wenige Tage nach meinem Besuch ruft mich die Äbtissin an und fragt, ob ich auch bereit sei, Einzelgespräche mit der einen und anderen Konventualin zu führen. Ich hätte beim gemeinsamen Abendessen einen guten Eindruck hinterlassen und nun wollten die ersten Konventualinnen auch von mir gecoacht werden. Auch wenn die Äbtissin bei unserem Treffen bereits auf Spannungen zwischen einigen Konventualinnen hingewiesen hatte, war ich mir nicht sicher, ob das der Grund für die zusätzlichen Coachingwünsche war oder die Tatsache, dass ich männlichen Geschlechts bin. In den folgenden Jahren hatte ich manchmal den Eindruck, dass eher Letzteres der Fall war.

Die große Herausforderung bestand fortan darin, in den jeweils zwei Tagen vor Ort den Coachingwünschen aller gerecht zu werden. Es gab Rangeleien zwischen den Damen, welche in welcher Reihenfolge und wie viel Zeit mit mir verbringen durfte. Das wurde üblicherweise strikt hierarchisch geregelt: an erster Stelle stand die Äbtissin, gefolgt von der Priorin, also ihrer Vertretung, dann ging es weiter nach Alter und Aufenthaltsdauer im Kloster. Nur hin und wieder stand auch Relevanz an zweiter Stelle. Suchte die eine noch eine Koalition mit anderen Konventualinnen zu bilden, pflegte die andere ihre Rolle als Störerin und Außenseiterin. Die Äbtissin versorgte mich vor meinen Treffen mit neuesten Infos über Psychopharmaka, die eine Konventualin offensichtlich wie Drops in sich hineinschob, über Streit wegen der Aufgabenverteilung, wegen mangelnder Höflichkeit und anderes mehr.

Bei einem meiner Besuche ging es vor und hinter den Kulissen hoch her. Drei Konventualinnen hielten mich an und baten mich, ganz kurzfristig mit der Äbtissin zu sprechen. Was war los? Zwei Konventualinnen lagen seit längerem im Streit. Die Jüngere wollte striktere Klosterregeln einführen, z. B. ein tägliches gemeinsames ausführliches Gebet, wöchentliche Erörterung religiöser Themen, sonntäglicher Gottesdienst im Habitat etc. Die Ältere fand das unangemessen und egoistisch. Es sei der Jüngeren doch freigestellt, soviel zu beten, wie sie wolle. Sie solle aber nicht alle in Gruppenhaft nehmen. Inzwischen stritten sich die Beiden ganz offen auf den Klostergängen über unerzogene Hunde, die ständig ihr Geschäft im Klostergarten verrichteten, über Drückebergerei vor der Arbeit, über Aussehen und allen möglichen weiteren Kram. Das alles sei der Äbtissin bekannt; doch greife sie mal wieder nicht durch.

Herr Averkamp, so kann das nicht weitergehen. Dieser Streit schadet uns allen. Inzwischen wird ja bereits außerhalb des Klosters über die Streitereien getuschelt. Sie müssen dringend mit der Äbtissin sprechen. Sie muss den Streit beenden.

Klar, mache ich. Die Äbtissin bittet allerdings mich, einzugreifen und den Streit zu schlichten. „Sie sind doch der von uns allen respektierte Coach und wissen, wie man das regelt.“ Doch dann wird sie sehr nachdenklich. Einige Minuten sitzen wir stillschweigend beieinander. „Nein, ich mache das. Ich will mich nicht hinter Ihrem breiten Rücken verstecken. Ich werde mit den Konventualinnen sprechen.“ Ich atme auf.

Rund vier Wochen später. Ich bin wieder vor Ort.

Die Trompeten von Kühne begrüßen mich und drohen, die dicken Klostermauern in Schutt und Asche zu legen.

Die beiden Streithennen stehen sich keifend gegenüber. Die eine brüllt mit unglaublicher Stimmgewalt „Sie intrigante Person. Sie respektloses Weib. Seit Generationen ist unser Geschlecht dem Kloster verbunden. Und Sie kommen hier frisch angekrochen und wollen mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich lasse mir ihre schändlichen Lügen nicht länger gefallen.“

Die andere ringt die Hände und ruft den Herrgott an. Als das nichts hilft, zischt sie schlangengleich den berühmten Spruch aus dem Dekalog: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Denn nicht ich lüge, sondern Sie. Ich weiß genau, was Sie draußen in Ihrem Bekanntenkreis über mich an Lügen verbreiten.“

Das Fass läuft über. Das gesamte Kloster ist in Aufruhr. Fehlt nur noch, dass aus Schreierei Schlägerei oder Damencatchen wird.

Die Äbtissin hatte den Streit offensichtlich nicht schlichten können. Nun beruft sie kurzfristig eine Versammlung aller Konventualinnen ein. Ernst schaut sie in die Runde, schüttelt ihr weißes Haupt.

Wir leben hier in einem Kloster. Da ist es per definitionem ausgeschlossen, dass eine von uns lügt.

Und sie fährt fort: „Hinsichtlich unserer Tracht, der Anzahl an Gottesdiensten und der Teilnahme daran, haben wir eine klare Klosterregel. Der Vorschlag, mehr Glaubensthemen zu diskutieren, ist nicht neu; wir werden darüber auf unserem nächsten Konvent sprechen. Ihr Streit ist also völlig überflüssig. Jetzt geben Sie sich die Hand und vertragen sich wieder.“

Damit war das Thema für die Äbtissin erledigt. Wortmeldungen der beiden Streitenden ließ sie nicht zu. Die Versammlung war beendet. Auch Monate später hatten die Streitenden ihre Hasskappe auf, sobald nur der Name der anderen fiel. Die Jüngere verließ das Kloster; die Ältere fand eine neue Feindin.

Die allgemeine Erwartung der Konventualinnen an mich war: ich sage Dir, was ich von der und jener Konventualin halte und was ich von der Äbtissin fordere. Und Du rennst hin und setzt das an der jeweiligen Stelle um, nennst aber nicht meinen Namen; denn das, was ich Dir sage, sage ich letztlich im Namen aller oder fast aller im Konvent.

Pech gehabt, so funktionierte das selbstverständlich nicht. Und schon zog ich mir den Zorn einiger Konventualinnen zu. Abends saßen wir dann manchmal in trauter – oder vorgespielt trauter – Runde am Kamin der Äbtissin, süffelten die eine und andere Flasche Wein mit Gläsern aus dem Sargschrank und plauderten über Gott und die Welt, na ja, meist eher über die Welt, was mir als altem Atheisten sehr recht war.

Eines Abends fragte mich in dieser Runde die 88jährige Frau Sugarta:

Kennen Sie das Wort `Sackratte‘? Ich war mit einer jüngeren Konventualin im Kino. Dort fiel dieser Begriff. Wir wissen aber nicht, was er bedeutet.

Etwa 10 Augenpaare richteten sich gespannt auf mich. Ich brauchte einen Moment; doch dann erklärte ich in sachlichem Medizinerton, dass es sich hier um einen eher vulgären Begriff für die Filzlaus handele, die sich bevorzugt im Bereich der Schamhaare festsetze. Die Damen nickten verstehend, vermieden es aber Gott sei Dank, weiter nachzufragen.

Wenn es keine gemeinsame Abendrunde gab, wurde ich zum Abendessen von dieser oder jener Konventualin in ihre Wohnung eingeladen. Der Besuch bei der damaligen Priorin, Frau Brüder, stets ausgesprochen gut und teuer gekleidet, bekam einen ganz besonderen Hauch.

Die Priorin vertritt während ihrer Abwesenheit die Äbtissin. Sie ist aber vor allem auch „für den inneren Zusammenhalt des Konvents“ zuständig und bildet das „Verbindungsglied zwischen den Klosterdamen und der Äbtissin, sollten kleine Probleme zu regeln sein.“

So hatte mir die Äbtissin vor meinem Besuch bei Frau Brüder deren Aufgabe beschrieben.

Nun machte aber die Priorin keinen Hehl daraus, dass sie die Wahl der Äbtissin für eine Fehlbesetzung hielt. Sie selber hatte das Kloster bis zur Wahl von Frau v. d. Bolz zur Äbtissin übergangsweise längere Zeit geleitet und war offensichtlich noch immer enttäuscht, dass sie nicht Äbtissin geworden war.

Die Äbtissin hat doch keinerlei Berufserfahrung. Wie will die denn ein Kloster mit all den vielfältigen Aufgaben führen? Die war doch nur Hausfrau und Mutter.

Dann betonte sie ausdrücklich, dass sie, die ja jahrelang im oberen Management eines internationalen Kosmetikkonzerns tätig gewesen sei, aber auf keinen Fall diesen Posten der Äbtissin hätte haben wollen. „Früher schon, aber heute bin ich mit fast 80 Jahren zu alt dazu.“ Dann präsentierte sie mir eine lange Liste mit Ratschlägen, die ich der Äbtissin auf geschickte Art und Weise ins Ohr flüstern sollte. Vor allem müsse sich die Äbtissin jemanden zur Seite nehmen, der Führungskompetenz und Führungserfahrung besitze. Nachtigall ick hör dir trapsen, dachte ich. Wenn schon nicht Äbtissin, dann doch zumindest Schattenkanzlerin wie weiland Wolfgang Schäuble im Merkelkabinett.

Auf der Liste stand auch die Kritik am zu wenig gepflegten Äußeren der Äbtissin und an der rücksichtslosen Qualmerei im Beisein von Nichtrauchern. Sie habe das der Äbtissin bereits mehrfach gesagt, sei aber auf Granit gestoßen. Jetzt sei ich ja da und hätte vielleicht mehr Erfolg.

Aber wie gewöhnt man einem Menschen, der seit Jahrzehnten eine an der anderen ansteckt, zumindest das Rauchen im Beisein von Nichtrauchern in den eigenen vier Wänden ab? Wie bringe ich der Äbtissin bei, dass sie mich nicht am Flughafen mit Lockenwicklern im Haar abholt, dass ihr Auto keine Müllhalde und gefälligst zu pflegen sei?

An meinem ersten Abend mit der Äbtissin und den Konventualinnen fragte mich die Äbtissin, ob mich ihre Qualmerei störe. Ich umschiffte die Antwort und fragte in die Runde der Konventualinnen. Die baten die Äbtissin, nicht zu rauchen. Sie nickte und schob ihre Zigaretten auf die Seite. Als nach etwa 15 Minuten ihre Hand zur Schachtel griff, erinnerte ich sie an den Wunsch der Konventualinnen. Sie zuckte mit den Schultern, schnappte sich eine Zigarette mit den Worten: „Ich weiß, ich bin süchtig. Was soll’s.“ Und damit war das Thema erledigt. Ab und an gab ich der Äbtissin einen kleinen Hinweis auf die vergessenen Lockenwickler oder ihre Qualmerei. Letztendlich waren es vergebliche Anstöße. Wen wundert’s?

Zurück zu meinem Abend mit der Priorin. Nachdem wir ein paar Wurstbrote verputzt hatten, sprach sie mich direkt an:

Herr Averkamp, das Jahr geht zu Ende. Sie haben uns letztes Jahr Wein zukommen lassen.

Ja, ich hatte je ein Dutzend Flaschen Weiß- und Rotwein geschickt.

Nun, es wäre sehr gut, wenn Sie dieses Jahr auch einige Flaschen Rosé-Wein und eine Kiste Champagner schicken. Und zudem haben wir auch eine Handkasse hier. Die ist fast immer ziemlich leergeräumt. Viele von uns beziehen nur eine schmale Rente und können sich davon kaum neue Garderobe oder einen Urlaub leisten. Ich zeige Ihnen morgen, wo die Handkasse steht.

Uff, das saß. Frau Brüder gab mir dann auch noch einen eindeutigen Hinweis, welchen Betrag ich dort hineinlegen sollte.

Sie müssen doch bei uns kein Geld verdienen. Es sollte Ihnen genügen, immer wieder in unsere Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Mit anderen Worten, sie erwartete, dass ich mein Salär in Scheinen wieder zurückgab und obendrein etliche Kisten Alkohol lieferte. Na, ganz so weit ging meine Liebe zum Kloster dann doch nicht. Finanziell waren die vier Jahre dort fast ein Nullsummenspiel; die klösterlichen Erlebnisse und Erfahrungen sind aber unbezahlbar.

Da fällt mir zum Schluss noch ein, dass Du lieber Karl-Martin, der mich überhaupt in dieses Babylon gebracht hat, mir für diesen „Höllenritt in einem Hühnerstall“ wie Du damals sagtest, eine Kiste mit exzellentem Rotwein versprochen hast. Der dürfte jetzt hinreichend lange in Deinem Keller gereift sein.

Hinweis: Die Geschichten habe ich, sofern mich meine Erinnerungen und Aufzeichnungen nicht täuschen, so erlebt. Die Namen der Damen und des Klosters habe ich verändert.