Januar 2016
 Lyrik

Sex Sells

Silvesternacht. Köln: „Die Nacht, die Deutschland veränderte“.

Buchtitel von Gerhard Voogt und Christian Wiemer (beide Kölner EXPRESS)

Die ‚widerwärtigen‘ Übergriffe und sexuelle Attacken auf Frauen von jüngeren, zumeist nordafrikanischen Männern verlangten ’nach einer harten Antwort des Rechtsstaates, so Merkel.

Berliner Morgenpost

Doch ganz unabhängig von den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht haben wir es seit Jahrzehnten Tag für Tag in unserem Land mit Sexismus und sexuellen Übergriffen zu tun, ohne dass es dazu eine entsprechende rechtliche Sicherheit für die Betroffenen gibt.

Wenn z. B. ein Mann eine Frau begrabscht, im Büro, auf der Straße, in der Bahn oder sonst wo, ihr an den Busen oder zwischen die Beine fasst, dann ist das bislang nicht strafbar (gewesen). Ganz im Gegenteil, die Frau, die dann dem Mann spontan eine knallt, macht sich strafbar und wird, falls der Mann sie anzeigt, für ihre Reaktion verurteilt.

Jahrzehntelange sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Kirche und Sport, im Internat und in allen möglichen Freizeiten, wird unter den Tisch gekehrt. In der berühmten Bundestagsdebatte von 1997 über „Vergewaltigung in der Ehe“ stimmen 138 Abgeordnete gegen eine Änderung des § 177, der bis dahin nur die außereheliche Vergewaltigung unter Strafe stellte. 1983 fragt Petra Kelly von den Grünen in die Bundestagsrunde, „ob Sie dafür sind, dass Vergewaltigung in der Ehe in das Strafgesetzbuch kommt“. Der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert antwortet mit „Nein“, beginnt lauthals zu lachen und löst bei etlichen Abgeordneten Lachsalven aus.

Ob sich durch die nach der Kölner Silvesternacht geforderte dringende Änderung des Sexualstrafrechts etwas ändern und es z. B. zu einer Beweisumkehr kommen wird, bleibt abzuwarten.

Und was ist mit unserer alltäglichen menschenfeindlichen Werbung, die ja nicht nur frauen-, sondern auch männerfeindlich ist, weil sie auch uns Männer in eine ganz bestimmte Reiz-Reaktionsecke stellt? Hier einige aktuelle Bespiele:

Sex sells

Busen und Po ganz unverhüllt,
Beine lang in Straps und Netz gehüllt,
sollen unsere Blicke auf sich ziehn.
Dann wirds am Piep- und auch am Geldhahn ziehn.
So denkt sich manch ein schlauer Werber.

Ob Keramikfliesen, schwarze Wälder,
ob Brauers Bier, ob Jobvermittler,
ob dunkles Sakko oder Müller’s Milch –
nacktes Frauenfleisch reizt jeden Knilch.
So denkt sich manch ein schlauer Werber.

Städte, Dörfer und Gemeinden,
Ämter und auch noch Parteien –
alle glauben fest daran:
nacktes Fleisch ist Verkaufsprogramm.
So sagen’s ihre schlauen Werber.

Und auch die Frauen schauen hin,
wünschen sich genauso zu sein,
wie die mit vollem Busen und langem Bein,
mit knackigem Hintern und frei von Falten.
Das ist es, was der Werber will gestalten.

Denn dann kauft auch Frau, was gegen sie dargestellt.
Der Werber reibt sich die Hände, in Ordnung ist seine Welt.
Sex Sells hat er seinen Kunden versprochen.
Der Erfolg gibt ihm Recht, auch wenn jeder Anstand wird gebrochen.

Wen interessiert schon das Geschrei einiger Emanzen,
die dazwischen funken – Himmel, Arsch und Zwirn, 
diese Furien sind doch ganz ohne Spaß im Hirn.
Die klagen, wettern, geifern, schrein,
besprühn Plakate, wollen die Retter sein,
von Anstand und Moral.

Sind für uns Werber nur Plage und Qual.
Bleibt unter Euch, geht in ein  Frauenkloster,
sucht euch ne Nonne, malt sie auf ein Poster.
Dann könnt ihr sehen, ob das in der Werbung zieht.
Wir Werber aber wissen, wann der Kunde flieht.

Nachtrag 2020

Wenn doch die Silvesternacht von Köln „Deutschland veränderte“, was hat sie denn verändert? Frauen zeigen Übergriffe offensichtlich häufiger an. Auf dem Oktoberfest in München hat sich im Herbst 2016 die Zahl der angezeigten Sexualdelikte gegenüber dem Vorjahr um fast 60 % erhöht. Haben dann die Männer endlich was gelernt? Im Folgejahr waren es auf dem Oktoberfest noch einmal plus 51 %. Die Bedienungen in den Zelten müssen sich noch immer durch Radlerhosen unter dem Dirndl gegen die Grapscherei der Besoffenen schützen. Ob Schützenfest, Wasen in Stuttgart, Cranger Kirmes, Kölner Karneval – sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen sind gang und gäbe und führen allenfalls zu kurzzeitigen Aufmachern in der Regionalpresse. Verändert hat sich seit der Silvesternacht aber wohl der Mut betroffener Frauen, sich zu melden. Verändert hat sich aber auch der noch feindlichere Blick auf „Fremdlinge“ in diesem unserem Lande. Populisten und Nationalisten wird’s freuen.