März 2022
 Geschichten

Schwerstarbeit im Tiefbauamt

„Moin, ich bin Heinrich. Wir sind hier alle per Du. Ich bin Raucher. Falls Dich das stört, kannst Du gleich wieder gehen.“

„Nö, stört mich nicht. Ich bin Michael.“ „Prima. Du sitzt mir gegenüber. Unseren Chef Paul hast Du ja schon kennengelernt. Ich sage Dir, was Du machen musst. Meistens bist Du draußen. Die Arbeit draußen macht Ihr zu Zweit, der Tscheche und Du. Der heißt zwar anders, wird aber von uns allen nur der Tscheche genannt. Ihr schaut Euch die Scheißegruben der Haushalte an, die nicht an die Kanalisation angeschlossen sind. Mittags machst Du hier die entsprechenden Einträge.“

Ich bin angekommen. Dienstag, 01. Juni 1982. Tiefbauamt Münster, Untere Wasserbehörde. Neues Abwasserabgabengesetz NRW. Überprüfung der rd. 3000 privaten Haushalte in den Außenbezirken der Stadt, die nicht an die Kanalisation angeschlossen sind. Kleineinleiter heißen sie. Das klingt schon irgendwie nach Ausscheidung. Die zu prüfende Aufgabe: Werden die Hinterlassenschaften dieser Haushalte gesetzeskonform entsorgt?

In den folgenden Minuten lerne ich die übrigen Kollegen des Teams kennen. Zwei ältere Herren, Franz und Werner. Sie werden sich einige Monate später so verkrachen, dass sie zum Gespött aller wieder zum Sie wechseln. Und dann ist da ein besonderes Exemplar der Gattung „Homo Sapiens“, obwohl das ziemlich übertrieben scheint, wie ich bald feststellen werde: „Ich bin Ekkehard Müsse, großes M, kleine Nüsse. Die Kollegen nennen mich Ekki. Kannst Du auch machen.“ Und dann verschwindet der Bauingenieur in sein Büro.

Heute, an meinem Einweisungstag, bleibe ich im Büro. Den Tschechen sehe ich nur ganz kurz. Er winkt mir zu. „Wir sehen uns morgen.“ Und dann ist er weg.

Um Punkt 11:00 kommt Paul aus seinem angrenzenden Chebüro. Heinrich steht auf.

„Komm mit. Wohlschmeckende Stunde.“

Leicht irritiert folge ich beiden in das Büro von Franz und Werner. Ekki ist auch schon dort. Wir versammeln uns hinter einer Reihe blecherner Aktenschränke. Sechs Schnapspinnchen sind bereits gefüllt. „Prost Michael. Herzlich willkommen in unserem Team.“ Bis zur Mittagspause leeren wir in aller Ruhe die Flasche Weizenkorn. Kein Mensch, der uns dabei stört. Dann machen wir uns auf zur Kantine. Ca. 300 m Fußweg durch die Stadt. Auf dem Rückweg landen Heinrich und ich in seinem Stammcafé zu Kaffee, Kuchen und Cognac. „Gut, dass Du heute Morgen nicht gekniffen hast. Sonst hättest Du Dich gleich zum Tschechen gesellen können. Der ist ein Sonderling. Mit dem ist auch keiner per Du.“

Leicht schwankend landen wir gegen 13:30 wieder im Büro. Ich durchstöbere die Unterlagen meines Vorgängers und versuche zu verstehen, was er seit Verabschiedung des Gesetzes 1981 bereits erfasst und nach welcher Systematik katalogisiert hat. Um vier ist Feierabend. Heinrich hat fast den gleichen Weg wie ich. Wir radeln durch die Promenade ins Unglück der kommenden sechs Monate.

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Tschechen raus.

Unsere unangemeldeten Kontrollbesuche finden nicht immer freundliche Aufnahme.

Aber das stört uns nicht. Mein Kollege, ein tschechischer Sorbe, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Die Inspektion muss sein. Wir sind auch ganz schnell wieder verschwunden.“ Wir prüfen Absetz- und Ausfaulgruben und verschiedene Verrieselungssysteme und erhalten Einblick in Intimitäten, die kaum jemand gerne präsentiert.

Aus manchen Klos läuft das Abwasser ungefiltert in den hinteren Teil des Gartens oder noch einige Meter weiter in die einstmals grüne Wiese. Klopapier, Kondome, Tampons, Zigarettenstummel und Fäkalien treiben selig vereint in brauner Brühe und würzen die Umgebung mit ihrem ganz besonderen Duft. Wir erfahren viel über Verhütungsmethoden, Entscheidungen für Binde oder Tampon und auch die Entsorgung von Lebensmittelresten. Für jeden kontrollierten Haushalt lege ich nachmittags eine Karteikarte mit unserem Prüfergebnis an. Ich tippe den Bescheid. Der Chef unterschreibt. Und ab geht die Post.

Eine meiner schwierigen Aufgaben besteht darin, um 11:00 oder kurz danach wieder im Büro zu sein. Denn unsere wohlschmeckende Stunde findet täglich statt.

Meistens klappt es, sehr zum Ärger meines tschechischen Kollegen, der Alkohol strikt ablehnt. Auch zu Hause werde kein Tropfen Alkohol angerührt. Seine Frau habe sich daran gewöhnt und freue sich inzwischen, von diesem Laster befreit zu sein. Johannes Paul, ihr dreijähriger Sohn, wird vom Vater in den praktischen Dingen des Lebens unterrichtet. Einige Beispiele, die er mir gut gelaunt erzählt:

„Wie lernt ein Kind am schnellsten die Gefahren einer Steckdose kennen? Man baut eine kleine Vorrichtung aus zwei Metallspitzen und einem Griff. Die muss das Kind in die Steckdose stecken und schon bekommt es einen heilsamen Stromschlag. Wie lernt es am schnellsten die Gefahren einer heißen Herdplatte kennen? Indem es seine Hand darauflegt. Meine Frau hat bei unserem Jungen anschließend die kleine Verbrennung behandelt. Das war aber nicht schlimm. Nur eine kleine Brandblase. Ich muss mir keine Sorge mehr machen, dass der Junge seine Finger in die Steckdose steckt oder seine Hand auf eine heiße Herdplatte legt.“

Start der zweiten Woche.

„Michael, hast Du am Mittwoch schon was vor? Wir gehen Kegeln. Wäre klasse, wenn Du mitkommst.“

Klar gehe ich mit. Wir trinken Pils. Immer aus 0,2 Gläsern. Da wird es nie schal. Für die Kellnerin eine leichte Aufgabe: Zapfen, bringen, abräumen, zapfen, bringen, abräumen, zapfen, bringen, abräumen. Jeder verputzt rd. 20 Pils. Ekki erhält die doppelte Ladung. Sein Pils steht sicher auf seinem Bauch, ist aber auch in Nullkommanichts geleert. Parallel zum Promillegrad verändern sich auch unsere Spielregeln. Mal muss die Kugel über Bande gespielt werden, mal darf sie erst möglichst knapp vor dem ersten Kegel auf die Bahn treffen. Zum Schluss landen wir im Schankraum. Einer schnappt sich Rollmöpse aus dem Glas auf der Theke und wirft sie in hohem Bogen durch den Schankraum. Wir müssen über Tische und Stühle springen und die Rollmöpse schnappen, bevor sie auf dem Boden landen. Die wenigen verbliebenen Gäste sind entsetzt. Das Resultat: Hausverbot.

Franz zückt sein Notizbuch und streicht die Kneipe durch. So ganz viele Kneipen mit Kegelbahn stehen uns für die kommenden Besuche nicht mehr zur Verfügung. Aber alle sind sich sicher, dass es bei Kneipen mit alten Hausverboten keine Probleme mehr geben wird. Und im Übrigen könne ich ja die Kegelbahn buchen.

Nach diesem Abend bin ich voll in die Riege der Alkoholiker integriert.

Wir gehen ein bis zweimal die Woche abends saufen und mindestens einmal im Monat kegeln. Das Wort „Hausverbot“ höre ich nun immer häufiger. Wir buchen eine Kegelbahn und hinterlassen Zerstörungen.

„Toll, hier gibt es einen Seiteneingang zur Kegelbahn.“ Schon fährt Werner mit seinem Motorrad die Treppe runter zu uns auf die Kegelbahn. Werner fährt, der Beifahrer muss kegeln. Nach 10 Minuten fliegen wir raus. Hausverbot.

„Oh, eine neue Kellnerin. Das wird ein Spaß.“ Nach der dritten oder vierten Runde hängen wir die Tür aus und lehnen sie nur noch an. Die Kellnerin kommt. Stolpert mit der Tür in den Raum. Das Tablett mit dem Bier fliegt durch die Gegend. Während sich der eine Teil um die Kellnerin und den Bruch kümmert, hängt der andere die Tür wieder ein. Die völlig verdatterte Kellnerin schwört Stein und Bein, dass die Tür defekt war. Der Wirt kommt, sieht die Bescherung und schimpft mit der Kellnerin. Die nächsten Runden laufen wieder wie gewohnt. Dann beginnt das Türspiel von vorne. Doch diesmal lassen sich weder die Kellnerin noch der Wirt auf unsere Beteuerungen ein, die Kellnerin sei einfach zu ungeschickt. Wir fliegen raus. Hausverbot.

Ekki zieht es im Anschluss an unsere Kneipenbesuche oft ins Münsteraner Rotlichviertel. Ja, ja, auch im konservativ-katholischen Münster gibt es Prostitution, auch den in vielen Städten ganz üblichen Straßenstrich am Stadtrand. Aber auch mitten in Münster, im ursprünglich überwiegend von Arbeitern bevölkerten Viertel um die Sonnenstraße, blühte viele Jahre das Gewerbe der Sunnas. So werden seit je her Prostituierte in der Münsteraner Geheimsprache Kasematte bezeichnet. Obwohl die Innenstadt seit Anfang der 1970er Jahre offiziell für Prostitution gesperrt ist, finden sich hinreichend Gelegenheiten.

Nicht selten taucht eine Dame bei uns auf und bringt Ekki sein vergessenes Portemonnaie oder seinen liegen gebliebenen Mantel. Ihm ist das überhaupt nicht peinlich. Und wir haben unseren Spaß mit ihm.

Vor meinem Start im Tiefbauamt hatte ich täglich ein bis zwei Stunden Sport getrieben.

Seitdem machten Alkohol und zu viel Essen dem Sport den Garaus. Ich frühstückte zu Hause, ging mittags in die Kantine, auf dem Rückweg zum Büro gab’s Kuchen im Café, am späteren Nachmittag zuhause noch einmal Kuchen, abends ein ordentliches warmes Abendessen, anschließend Knabbereien und Schokolade. Von meinen 60 kg Ausgangsgewicht war nach sechs Monaten nichts mehr zu sehen. Die Waage strafte mich mit mehr als 85 kg.

Ich war auf dem besten Weg, zu verfetten und mir mein Hirn wegzusaufen.

Von heute auf morgen warf ich das Handtuch und nahm Reißaus. Es wurde höchste Eisenbahn. Ab sofort hieß es bei mir 0,0 Promille, vernünftige Ernährung und Sport.

Den Körper habe ich ganz gut wieder in den Griff gekriegt. Über den Rest müssen andere urteilen.