Januar 2021
 Musik

Rundes in die Ohren

Januar 2021

Carla Bley Big Band. Looking For America. CD.

Carla Bley liebt Ironie und Augenzwinkern. Beim Jazzfest Berlin lässt sie sich vor Jahr und Tag von einigen Zuschauern ausbuhen. Der Rest des Publikums ist völlig irritiert. Erst recht, als Carla mit ihren Mitstreitern skandiert: „Boo to you too! Boo to you too!“ Die Lösung: Ein von ihr organisierter Spaß. Mit ihrem kürzlich verstorbenen Lebensgefährten, dem Bassisten Steve Swallow, beendete sie manches Konzert mit dem „Simple Song“. Einfach genial. Unbedingt ansehen:

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Dieses Augenzwinkern zieht sich auch durch „Looking For America“ aus dem Jahr 2003. Schon das Titelfoto signalisiert, worum es geht: Carla blickt durch ein riesiges Teleskop auf der Suche nach Herz und Seele Amerikas. Im Mittelpunkt der Platte steht das fast 22minütige „The National Anthem“, das hier so vielschichtig und amüsant dargeboten wird – vom feierlichen Anthem bis zum wilden Free Jazz. Vier eindringliche, von den Bläsern getragene Stücke, widmet Carla dem Thema Mutter: „Grand Mother“, „Step Mother“, „Your Mother“ und „God Mother“. Ob kubanischer Groove in „Los Cocineros“, mexikanische Freude in „Tijuana Traffic“ oder das wunderbar schräg swingende „Old MacDonald had a Farm“, diese „alte“ Scheibe hat auch im Jahr 2021 nichts von ihrer Frische und ihrem ganz speziellen Blick auf Amerika verloren.

Marc Ribot: Songs of Resistance 1942 – 2018. CD

Wütende Idioten stürmen das Kapitol. Ich lege Marc Ribot’s Songs of Resistance auf. „We are soldiers in the army“ singt die New Yorker Jazz-Sängerin Fay Victor begleitet von einem Free Jazz Tumult.

We are soldiers in the army
We have to fight although we have to cry
We got to hold up that blood-stained banner
We have to hold it up until we die

In Umkehrung dieses Traditionals, vielfach gehört in der Bürgerrechtsbewegung aus den 50er und 60er Jahren, machen sich die Trump-Horden auf, um für ihren Präsidenten zu kämpfen. Und sie treten die von Martin Luther King geforderte Civil Disobedience, den gewaltfreien Widerstand, mit ihren Springerstiefeln in den Dreck.

Marc Ribot’s Worte im Begleittext klingen im Nachgang fast prophetisch: „my grandparents lost brothers, sisters, cousins, aunts and uncles in the Holocaust, and I’ve toured and have friends in Russia and Turkey: we recognize Trump, and it’s no mystery where we will wind up if we don‘ push back. …I’m a musician, so I began my practice of resistance with music.“

Ribot versammelt auf seiner Aufnahme elf Songs rund um das Thema Widerstand. Manche alten Texte werden hier und da umformuliert, um den Bezug zu Trump eindeutig herzustellen. Im mexikanischen „Rata De Dos Patas“ bleibt die mexikanische Sängerin aus Angst vor Visumproblemen anonym. Ihr zur Seite steht der Rapper Ohene Cornelius, der die „verdammte Schabe“ konkretisiert: „Donald Trump, I’m talking to you“.

Tom Waits selten so klar gehörte rauchige Stimme bringt eindrucksvoll die ganze Trauer, aber auch Entschlossenheit des Partisanen in Bella Ciao (Goodbye Beautiful) zum Ausdruck. Welch ein Unterschied zu dem widerlichen Pop-Geträller eines „El Professor“ oder vom besoffenen lalalala eines Axel Fischer.

Steve Earle singt über „Srinivas“, einen US-Sikh, den ein Rassist erschoss, weil er ihn für einen Muslim hielt. Für Meshell Ndegeocello textet Ribot das Partisanenlied Fischia Il Vento um zu „The Militant Ecologist“:

The wind it howls, the storm around is raging
Our shoes are broken, still we must go on
The war we fight, is no longer for liberty
Just the possibility / of a future.

Der Erlös dieser absolut hörens- und nachdenkenswerten CD geht an „The Indivisible Project“, ein überparteilicher Zusammenschluss aus dem Jahre 2016 nach Trumps Wahlsieg. Kämpft für Demokratie und gegen „Corporatocracy“.

Nina Simone. Four Women. The Nina Simone Philips Recordings. 4 CDs.

Enthält folgende LPs mit Aufnahmen aus den Jahren 1964 bis 1966:

Seit ihrem Auftritt im weißen Netzgewand bei Hans-Joachim Kulenkampff wohl irgendwann in den 1960er Jahren habe ich Nina Simone im Kopf, obwohl ich damals wohl nur danach geschaut habe, ob sie unter dem Netz nackt war oder nicht. Die zahlreichen späteren Konzertbesuche haben mich zu einem begeisterten Hörer dieser außergewöhnlich beeindruckenden Künstlerin gemacht. Die Box enthält zahlreiche Klassiker wie Strange Fruit, Tomorrow Is My Turn, Chilly Winds Don’t Blow, The Ballad Of Hollis Brown, Four Women, Don’t Let Me Be Misunderstood. Songs von Bob Dylan bis zu George Gershwin und Charles Aznavour, von Duke Ellington und Nat Adderley und von ihrem Ehemann und Manager Andy Stroud. Nicht wenige dieser Songs haben auch heute nichts von ihrer zum Teil bedrückenden Aktualität verloren. Ihre Tochter Simone setzt das Erbe ihrer Mutter fort.

Ray Charles. Live in France 1961. Filmed at the Antibes Jazz Festival July 18 – 22, 1961. DVD

Ray Charles, nach seinem Wechsel zu ABC Paramount mit mehr Freiheiten ausgestattet, hat sein Oktett inkl. David „Fathead“ Newman und Hank Crawford und den original Raeletts an Bord. Gerade die gegenüber seinem Orchester verkleinerte Band gibt Ray’s Stimme noch mehr Gewicht, z. B. in Georgia On My Mind mit der kontrastierenden Flöte von David „Fathead“ Newman.

Ein Meilenstein unter den Jazzfilmen und eine tolle Jazzperformance mit Klassikern wie Georgia On My Mind, Sticks And Stones, Let The Good Times Roll und selbstverständlich What’d I Say.

Anschließend den großartigen Jamie Fox in „Ray“ sehen.

Antonio Vivaldi. Vespri Solenni per la Festa dell’Assunzione di Maria Vergine. Rinaldo Alessandrini, Concerto Italiano. 2003, 2 CDs

Ein rekonstruierter Vesperzyklus zum Fest Mariä Himmelfahrt. Exzellente Aufnahme im Rahmen der musica sacra Reihe der Vivaldi Edition. „Der Barockspezialist Rinaldo Alessandrini und der Musikwissenschaftler Frédéric Delaméa haben mit dieser CD einen gut durchdachten Zyklus zusammengestellt, wie er zu Zeiten Vivaldis in der Chiesa della Salute oder der Kirche San Lorenzo in Venedig hätte aufgeführt werden können“ (aus dem Begleitheft).

Barockmusik für die Seele. Roberta Invernizzi, Sara Mingardo und Gemma Bertagnolli, drei exzellente Interpretinnen von Barockmusik, begeistern mit expressiver Lyrik und mitreißender Virtuosität. Alessandrini führt Orchester und Chor souverän mit Kontrolle und Energie.

Für mich ein entspannter Abschluss nach einem langen Tag.