August 2020
 Geschichten

Mit dem M29 durch die Hölle von Berlin …

Wer die Berliner Welt der Gegensätze, die Vielfalt dieser Stadt in gut einer Stunde kennenlernen will, setze sich in den M29, von manchen auch „Bus durch die Hölle“ genannt und fahre vom Roseneck in Dahlem zur Endstation Hermannplatz in Neukölln oder andersherum, ganz al Gusto. Und wer mag und Zeit hat, steigt einfach zwischendurch immer mal wieder aus und wandert durch den Kiez seiner Wahl.

Lediglich zahlreiche Stolpersteine weisen darauf hin, dass Dahlem einst Heimat vieler Juden war. Sie und viele der dort lebenden und arbeitenden oppositionellen Wissenschaftler wurden von den Nazis vertrieben und ermordet, mussten Bormann, Himmler, Darré, Jodl, von Brauchitsch, Dönitz und anderen weichen, die sich in ihren Villen einnisteten. Vornehm und erzkonservativ ist Dahlem auch heute noch. Die CDU-Wählerschaft übertrifft locker die 50 % Marke. Davon träumt heutzutage selbst die CSU in Bayern. Vorbei geht die Fahrt u. a. am Rathenau- und Olivaer-Platz über den Kurfürstendamm zum Mendelssohn-Bartholdy-Park mit seiner großen Rasenfläche und zum Anhalter Bahnhof in Kreuzberg, lange Zeit einer der wichtigsten Berliner Fern-Bahnhöfe.

Das quirlige, dichtbesiedelte Kreuzberg mit rd. einem Drittel Migranten bildet einen drastischen Gegensatz zum beschaulichen Dahlem. Politisch im Wesentlichen Grün, hält sich – ähnlich wie bei Asterix – eine linke Enklave in Kreuzberg 36 am Heinrichplatz, wo die CDU nicht einmal die 5 % -Hürde schafft und „Die Linke“ fast 30 % der Stimmen einheimst. In Kreuzberg-Friedrichshain hielt sich lange Zeit das Zentrum der sog. linksradikalen Alternativbewegung und der Hausbesetzerszene. Mit der Zwangsräumung der Häuser in der Liebig- und in der Rigaerstraße im Oktober 2020 und dem zum Teil brutalen Auftreten der „Kiez-Miliz“ des Eigentümers Liebigstraße, ist auch dieser Abschnitt der Gegenkultur fast schon Geschichte, wäre da nicht die seit 1990 noch immer besetzte Rigaerstraße 94.

Den Schlusspunkt der Bustour setzt das Tor nach Neukölln, der von der Polizei als kriminalitätsbelastet eingeordnete Hermannplatz mit dem berühmten, denkmalgeschützten Karstadt Haus. Das ließen die Nazis kurz vor der Befreiung durch sowjetische Truppen sprengen; denn die hier gelagerten Lebensmittel für fast 30 Mio. RM sollten keinesfalls dem Feind in die Hände fallen. Nach dem Krieg wurde mit dem auch heute noch nicht abgeschlossenen Wiederaufbau des Hauses begonnen. Diebstahl, Drogenhandel und Gewalt finden sich in Berlin, wie wohl in allen Großstädten der Welt, überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen. Gewaltausbrüche mit Körperverletzungen und vor allem Clankriminalität werden am Hermannplatz und auf der Hermannstraße zu einem immer größeren Problem und halten nach Einbruch der Dunkelheit viele Frauen davon ab, diese Gegend alleine zu durchlaufen.

Es ist Sonntagnachmittag, ich mache es mir im M29 am Hermannplatz bequem. Ein später Kuchen – na ja, in Wahrheit sind es einige Stücke – wartet auf mich am Buffet im besten Café der Stadt am Roseneck. Etliche Mitreisende verteilen sich im Unter- und Oberdeck, gut geschützt mit Anti-Corona-Masken. Vorbildlich.

… Und dann steigt ein Junge ein

Der Junge ist vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er trägt keine Maske. Schaut sich suchend um. Spricht mit sich selber. Geht auf eine junge Frau zu. Sie sitzt am Fenster. Er setzt sich daneben. Will ihr die Hand geben. Sie drückt sich platt ans Fenster. Schüttelt den Kopf. Will seine Nähe nicht. Er steht auf. Einige Reihen hinter mir das gleiche Spiel. Wieder eine junge Frau, die ihn resolut abweist.

Er wandert im Gang auf und ab. Ich sehe seinen Hinterkopf. Eine dünne weiße Linie zieht sich vom Nacken bis zum Scheitel hoch. Ich mag nicht daran denken, was er in seinen jungen Jahren bereits erdulden musste.

Wenige Stationen sind vorbeigezogen. An der Pflügerstraße steigt er aus. Ein junges Mädchen im besten Teenageralter will einsteigen. Er greift ihre Hand, fällt dem Mädchen um den Hals. Es ist starr vor Schreck und Angst.

Schnell wie der Blitz ist die resolute junge Frau aufgesprungen und laut rufend zur noch offenen Tür gerannt. Der Junge erschreckt und geht seiner Wege. Das junge Mädchen steigt zitternd ein.

Was mag im Kopf des Jungen vor sich gehen? Er will ja anscheinend nichts Böses. Versteht aber auch nicht, warum die Menschen sich von ihm abwenden.

Ich bin neugierig geworden. Vergesse meinen Sonntagskuchen, springe aus dem Bus und folge dem Jungen. Scheinbar ziellos läuft er umher. Will Nähe zu Mädchen. Immer das gleiche Spiel. Annäherung, Händeschütteln, Umarmung. Immer die gleiche Reaktion. Überraschung. Entsetzen. Wegstoßen.

Es ist inzwischen dunkel geworden. Der Junge geht auf ein typisches Mietshaus auf der Urbanstraße in Neukölln zu. Klingelt. Ich folge ihm. In der zweiten Etage steht eine junge Frau in der offenen Tür. Der Junge fällt ihr um den Hals. Sie drückt ihn an sich, streichelt ihm sanft das Gesicht.

Ich spreche sie an und frage, ob ich einen Moment reinkommen darf. Sie ist reserviert, knallt mir aber nicht sofort die Tür vor der Nase zu. Sie spürt wohl, dass es um ihren Jungen geht.

Der Junge verschwindet. „Eine halbe Stunde in der Badewanne ist sein liebster Tagesabschluss“ sagt sie. „Soll ich ihm diese kleine Freude nehmen?“ Dann bittet sie mich herein.

Wir stehen in der Küche. Weißes Resopal, schlichter Holzesstisch mit drei Stühlen. Sommerlich bunt geblümte Stoffdecke auf dem Tisch. Alles strahlt Ordnung und Sauberkeit aus. Sie sieht mich fragend an. Ich berichte ihr von dem, was ich gesehen habe und von meiner Irritation. Sie nickt. „Ja, das ist eine ganz schwere Zeit für uns alle. Der Lukas ist vor Jahren beim Toben in der Schule die Treppe runtergefallen und hat sich dabei schwere Hirnverletzungen zugezogen. Seitdem ist unser Leben auf den Kopf gestellt. Während der Woche lebt er in einer betreuten Gruppe. Ich gehe tagsüber arbeiten. Bin dann inklusive Fahrtweg mehr als zehn Stunden fort. Mein Mann bereitet das Abendessen für uns und bricht dann in seine Nachtschicht auf. Freitags holen wir Lukas ab und bringen ihn montags früh zurück. Jedes Wochenende überlegen wir uns etwas Schönes für ihn. Mal machen wir einen Ausflug in den Zoo, dann wieder geht’s ins Freibad oder ins Kino. Er ist dann kaum noch zu bremsen und erzählt noch Stunden später von seinen Erlebnissen.

Doch manchmal entwischt er mir und treibt sich alleine draußen herum. Das passiert nur dann, wenn mein Mann am Sonntag mit seinen Freunden beim Fußball ist und ich mich um den Haushalt kümmere.“ Ich bin ein wenig skeptisch. „Hm, Fußball gibt es zurzeit eher nicht, und Ihr Mann ist doch offensichtlich dennoch nicht zuhause.“ „Ach, die Jungs treffen sich einfach jeden Sonntag. Ich freue mich, dass mein Mann dieses kleine Vergnügen hat. Ich treffe mich doch auch einmal die Woche mit meinen Freundinnen. Das sind für uns die besten Gelegenheiten, abzuschalten, nicht an die Arbeit oder den Lukas zu denken. Das brauchen wir auch für unsere Kräfte.“

Wie einfach das aus ihrem Mund klingt. Doch ich muss das erst einmal verarbeiten. Schweigend stehen wir einige Minuten. Die Frau, deren Namen ich nicht einmal kenne, steht mir gegenüber. Sie löchert mich nicht mit Fragen, warum mich das interessiert. Was ich überhaupt will.

Diese junge Frau, steht vor mir in ihrer nicht gerade schick sanierten Altbauwohnung, muss sich um tausend Dinge kümmern, sieht ihren Mann kaum, hat einen behinderten Jungen, ist voll berufstätig – und dennoch höre ich keine Klagen, aber auch keine Schicksalsergebenheit. Hier steht eine selbstbewusste Frau vor mir, die mir jeden Respekt abgewinnt.

„Lukas ist im Grunde ganz harmlos“ sagt sie, „und er findet Gott sei Dank auch immer den Weg zurück. Aber seit er in die Pubertät gekommen ist, fühlt er sich ganz instinktiv zu Mädchen hingezogen.“ Sie zuckt die Schultern. „Wir versuchen ja unser Bestes. Aber wir können ihn doch auch nicht anbinden.“

„Na ja“ sage ich, „er sucht draußen gezielt wildfremde Mädchen und junge Frauen, umarmt sie und drückt sie an sich. Das würden Sie doch auch nicht gerne wollen. Und erst recht nicht jetzt während der Pandemie. Haben Sie keine Sorge, dass er nicht noch weitergeht, dass es nicht nur bei einer Umarmung bleibt? Und dass er nicht nur weggestoßen wird? Dass es zu Gewalt kommt? Dass ihn ein paar empörte ‚Bürger‘ vermöbeln, oder die gerufene Polizei nicht gerade sanft mit ihm umgeht? Oder dass er an die ganz Falschen gerät? Neukölln zählt immerhin zu den Hochburgen der Rechten in Berlin. Und wie die über Menschen mit Behinderung denken, wissen Sie doch zur Genüge.“

Aber welche Lösung gibt es zwischen Wegsperren, Anbinden, nie aus den Augen lassen oder Schlimmerem? Wäre eine offene Erziehung von Kindesbeinen an, die Gemeinsamkeit von Kindern ohne und mit Behinderung im Hort und in der Schule nicht eine gute Grundlage für Toleranz und für souveränen Umgang mit Menschen wie Lukas? Und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit das auch professionell und erfolgreich für alle Gruppen gelingt? Immerhin hat Deutschland die UN-Konvention unterschrieben, in der kein Unterschied gemacht wird zwischen Menschen mit Behinderung und solchen ohne.

Im Angesicht der Pandemie und der Angst vor Ansteckung durch Händeschütteln und Umarmung braucht es wohl einen klaren Kopf und ein wenig Aufmerksamkeit. Die junge Frau aus dem Bus hat gezeigt, wie es geht.