Mikis Theodorakis (1925 – 2021)
Ich begriff, dass der Mensch gutherzig wird, sobald er ein Verfolgter ist, und das war die schrecklichste Erkenntnis meines Lebens. … Und genau derselbe Mensch wurde, wenn er aus dem Gefängnis wieder rauskam, zum Machtmenschen – wenn nicht noch schlimmer. Das führte dazu, dass ich vollkommen am Menschen verzweifelte; ich sah, dass mir nur eins bleibt: Musik schreiben. … Damals bin ich zum Musiker geworden.
zit. nach Asteris Kutulas. Mikis Theodorakis. Ein Leben in Bildern. Schott. Mainz 2010, S. 14.
Asteris Kutulas (Jg. 1960), seit 1980 enger Freund, langjähriger Begleiter und Produzent, hat das diskografische Gesamtwerk von Theodorakis von seinen Anfängen als Sechzehnjähriger bis 1996 auf mehr als 500 Seiten aufgelistet. Doch erst 2009, mit 84 Jahren, beendet Theodorakis seine kompositorische Arbeit. Sein letztes Werk wird „Andalusia“ für Alt und Sinfonieorchester. Sein Schaffen umfasst zahlreiche Werke für Violine und Klavier; Choräle, Sinfonien, Opern, Filmmusiken, Lieder, Streichorchester, Ballettmusik, Theatermusik, Oratorien, … – eine unerschöpfliche Fundgrube eines obsessiven Komponisten, Dirigenten, Sängers, Lehrers, von Faschisten und Obristen Inhaftierten und brutal Gefolterten und nicht zuletzt streitbaren Politikers. Detaillierte Infos und die sehr lesenswerte Einleitung zu seiner Werkschau: Mikis Theodorakis Werkverzeichnis – Asteris Kutulas Blog (asti-blog.de)
Die 18 kleinen Lieder der bitteren Heimat von Jannis Ritsos
Als Nikos und Athena Kompsopoulos 1971 in Aachen ihre Taverne Dinosaurus in einem wunderschönen Rundbau mit meterhohen Fenstern eröffneten, konnten sie noch nicht ahnen, dass ihre Taverne zu einem der wichtigsten kulturellen Treffpunkte für Griechen werden würde. Mikis Theodorakis kam aus seinem Pariser Exil und machte Aachen zu einem Widerstandszentrum gegen die Militärdiktatur. Hier spielte und sang er auch Die 18 kleinen Lieder der bitteren Heimat, die Jannis Ritsos 1968 – 1970 für Mikis geschrieben hatte. Hier die Lieder 17 und 18:
Verfolgt, verhaftet, gefoltert
Während der deutschen Besatzungszeit (1941 – 1944), dem griechischen Bürgerkrieg (1946 – 1949) und der Juntazeit (1967 – 1974) wird Theodorakis als Kommunist immer wieder verhaftet und brutal gefoltert:
Herausgerissene Fingernägel, mehrfach fast zu Tode geprügelt, einige Male zum Tode verurteilt und nur durch glückliche Umstände am Leben geblieben, Scheinhinrichtungen, gebrochene Beine, das rechte Ohr nahezu taub geschlagen, Schädelbruch, lebendig begraben, schwere Lungenverletzungen, Tuberkulose, Rippenbrüche, auf einem Auge kaum noch Sehvermögen, zu Tode geprügelte Freunde in der Nachbarzelle, Verbannungen nach Ikaria, Mkronisos, Zatuna, Konzentrationslager Oropos.
1970, nach jahrelangem weltweitem Druck, der erlösende Gang ins Exil nach Frankreich. Mit ungebrochener Kraft, Energie und Lebensfreude komponiert, dirigiert und singt Theodorakis. Wir diskutieren im Freundeskreis die Situation in Griechenland seit dem Putsch der faschistischen Obristen 1967, hören die Theodorakis Lieder und lassen sie uns von griechischen Freunden übersetzen. Immer wieder fragen wir uns, wie jemand, der sooft dem Tod ins Auge sehen musste, noch zu solcher Leistung fähig ist. Ich kaufe meine ersten Theodorakis-Platten, March de L’esprit und Oedipus Tyrannus, Lieder für Andreas, Arcadies I – X und….
Epitafios nach Gedichten von Jannis Ritsos
Bereits von 1954 bis 1960 lebt Theodorakis in Paris und ist dort u. a. Meisterschüler bei Messiaen. Hier entwickelt er seinen ganz eigenen Stil der Sinfonik und der Melodie. In diesen Jahren entstehen große symphonische Werke und z. B. das Antigone-Ballett. Hier „experimentiert“ Theodorakis auch mit Zwölftontechnik und mathematisch berechneten Strukturen. Doch ist ihm letztlich die „Neue Musik“ zu intellektuell, nicht für das Volk, dem er sich so eng verbunden fühlt. So nennt er auch einen lesenswerten Aufsatz zu seiner Philosophie „Startum und Snobismus – Tod der Musik“.
Mit dem Epitafios erfährt die Sinnsuche in diesen Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt. Fast zeitgleich erscheinen 1960 die Epitafios in einer eingängigen Version mit Nana Mouskouri und der uns so geläufigen „typisch“ griechischen Musik und in einer sperrigen Theodorakis-Variante. Diese Aufnahme landet bei mir. Sie ist in der Tat eher minimalistisch mit dem Volkssänger Grigoris Bhitikotsis und dem Bouzoukispieler Manolis Chiotis, den Theodorakis zurecht für einen der besten weltweit hielt. Bhitikotsis war damals seit längerem ohne Engagement. Völlig verarmt wollte er sich in Kanada als Arbeiter verdingen, als Theodorakis ihn gerade noch rechtzeitig für diese Aufnahme verpflichtet.
Die griechischen Freunde erklärten mir die besondere Bedeutung dieser Einspielung. Erstens war die Platte eine bewusste Gegenposition zu der mit Nana Mouskouri. Zweitens war die Bouzouki als Instrument der Bauern verpönt. Nur mit harten Drohungen schaffte es Theodorakis, dass seine Musiker die Bouzouki statt der Gitarre akzeptierten. Es ist Theodorakis zu verdanken, dass die Bouzouki heute zu den „Markenzeichen“ griechischer Musik gehört. Drittens entstanden die Gedichte von Jannis Ritsos 1936 unmittelbar nach einem blutig niedergeschlagenen Streik der Tabakarbeiter. Vor allem das Bild einer weinenden Mutter über dem Leichnam ihres getöteten Sohnes erschüttert Ritsos derart, dass er einige Tage und Nächte ohne Pause an Epitafios arbeitet.
Mit seiner archaischen Version trifft Theodorakis ins Herz des griechischen Volkes, das die Lieder in den Tavernen und auf der Straße singt. Und er schafft einen bis heute relevanten neuen Liedtypus, das „zeitgenössische Volkslied“ (Endechno Laiko Tragoudi)
Über die Hintergründe und die Entstehung dieses in den Augen von Theodorakis wichtigsten Werkes findet sich hier ein kurzer Filmbericht auf Deutsch:
Teil 1: https://www.youtube.com/watch?v=KhMszefJXv8
Teil 2: https://www.youtube.com/watch?v=M9bflPuYm_g
Mauthausen nach Texten von Kambanellis
Der Dichter Iakovos Kambanellis, Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen, verfasst 1965 vier Gedichte, die er Theodorakis zur Vertonung gibt. 1966 erscheint Mauthausen mit der von Theodorakis in einem Chor entdeckten sechzehnjährigen Maria Farantouri, die Mikis künftig als „Hohe Priesterin“ bezeichnet, und Petros Pandis. Beide werden die kongenialen Interpreten seiner Musik.
Doch bereits ein Jahr später wird die Musik von Theodorakis verboten. Im April 1967 setzt Papadopoulos eine Militärjunta ein.
Erlass der Armee, Nr. 13:
Aswestopoulos, S. 137.
1. Wir haben beschlossen zu befehlen, dass es im ganzen Land verboten ist die Musik und Lieder des Komponisten Mikis Theodorakis … wiederzugeben oder zu spielen, weil diese Musik im Dienst des Kommunismus steht.
Theodorakis wird verhaftet und erneut gefoltert. Erst auf internationalen Druck kommt er 1970 frei und wird nach Paris ausgeflogen.
Als ich die Mauthausen Kantate Ende der 1960er Jahre erstmalig auf Platte höre, bin ich von dieser Verbeugung vor den Opfern des Holocaust tief getroffen. Unvergesslich auch das Liveerlebnis 1973 mit Farantouri und Pandis. Während ich mich 1981 an einem extrem heißen Sommertag den steilen Anstieg zum Lager hinaufquält, klingt das Lied der Lieder in mir.
Und trotz dieser Gewalt, dieses Leids und dieser Schrecken endet Kambanelli’s Zyklus optimistisch
09. Oktober 1974 – Παραδώστε τη χούντα στο λαό (Übergebt die Junta dem Volk)
Und dann am 09.Oktober 1974 das legendäre Konzert im Kareiskakis Stadion in Piräus. Die Diktatur ist besiegt, Theodorakis seit 1970 erstmalig wieder in seiner Heimat. Gemeinsam mit Politikern, Dichtern, Schauspielern, Sängerinnen und Sängern feiert Theodorakis die neue Freiheit.
Ich glaube, dass wir alle damals freudetrunken über den Wolken schwebten. Ich war kein rational denkender Mensch mehr. Das Publikum war in einer Verfassung, wie ich es danach nie wieder erlebte: erfüllt von Freude, Glück, Stärke.
Theodorakis, zit. nach Kutulas, S. 102
Der WDR zeichnete das Konzert auf und ergänzte es um zahlreiche Statements des Publikums. Die fast 90minütige Kinofassung dieses bedeutenden Zeugnisses der Befreiung gilt als verschollen. Wir haben sie damals unzählige Male gesehen und waren immer wieder überwältigt von der Energie und Leidenschaft, die selbst von der Leinwand hinunter zu spüren war. Theodorakis dirigierte und sang, als ob es kein Morgen gebe. Die Griechen im Kinosaal hielt es nicht in den Sitzen. Sie sangen voller Leidenschaft und rissen jeden im Saal mit. Schon ein Jahr zuvor hatten wir Mikis mit Maria Farantouri und Petros Pandis in der Musikhalle in Hamburg in Hochform gesehen; doch was in Piräus passierte, war unbeschreiblich.
Einzelne Sequenzen der am 27.11.1974 ausgestrahlten Fernsehfassung finden sich im Internet. Auch Nikos Koundouros hat über dieses Konzert einen beachtenswerten Dokumentarfilm gedreht: Tragoudia tis fotias (Lieder des Feuers).
Canto General (Der große Gesang) nach Texten von Pablo Neruda
Pablo Neruda verfasste zwischen 1938 und 1949 einen Gedichtzyklus über Lateinamerika – von der Erschaffung bis zum Kampf gegen den Kolonialismus und der Hoffnung auf Unabhängigkeit. Nachdem Theodorakis eine Aufführung der Gruppe Aparcoa mit Texten aus dem Canto gehört hatte, wollte er einen eigenen Canto General komponieren. Aparcoa, tief in der Tradition der chilenischen Musik verwurzelt, spielten ihren Canto auf traditionellen Instrumenten, Flöten, Quena, Charango etc. Theodorakis wollte ein großes Werk mit Orchester, Chor und Solostimmen. Gemeinsam mit Pablo Neruda sollte das fertige Werk auf einer Tournee durch Lateinamerika aufgeführt werden: „Canto General – Neruda rezitiert, Theodorakis dirigiert.“ Allein in Buenos Aires waren 120.000 Karten verkauft worden. Doch der Plan scheiterte an der Krebserkrankung Nerudas und dem Militärputsch Pinochets am 11.11.1973 gegen die gewählte Regierung Allende. Nur zwölf Tage nach dem Putsch erlag Neruda seiner Krankheit.
Die wesentlichsten Aspekte in Nerudas Lyrik wie auch in meinem künstlerischen Wesen – das Rhythmische und das Melodische der Sprache von Südamerika und des Byzantinischen, das in mir verwurzelt war -, diese beiden Aspekte harmonierten in unserem gemeinsamen Werk auf ideale Weise. … Der Canto ist das Resultat einer symbiotischen Neruda-Theodorakis-Beziehung.
Theodorakis, zit. bei Kutulas, S. 89.
Nachdem wir uns 1974 beim Pressefest der Humanité in Paris bereits an Teilen des Canto berauschen konnten, war es Ost-Berlin vorbehalten, uns am 04. April 1980 im Rahmen des Festivals des politischen Liedes die sieben vorliegenden Sätze zu präsentieren – eine Sensation, nachdem Theodorakis seit seinem Austritt aus der kommunistischen Partei Griechenlands in der DDR zehn Jahre lang als Persona non Grata betrachtet worden war. Solisten waren Maria Farantouri und Heiner Vogt.
Die chilenische Premiere im April 1993 im Teatro Monumental von Santiago dirigierte Theodorakis. Solisten waren die finnische Sängerin Arja Saijommaa, mit der Theodorakis den Canto bereits in der Entstehungsphase geprobt hatte und Petros Pandis. Der Poet Nicanor Parra, älterer Bruder der Sängerin Violetta Parra, sprach die lyrischen Texte. Dieses besondere Konzert wurde vom chilenischen Fernsehen übertragen und ist als DVD erhalten.
Die für mich beeindruckendste Aufnahme – und zudem eine der wenigen Gesamtaufnahmen mit allen 13 Teilen – ist die Live Aufnahme von 1981 aus der Olympiahalle München mit Maria Farantouri und Petros Pandis.
Hier das erste und das letzte Stück des Canto:
Algunas Bestias (Einige Tiere)
Es war die Dämmerung des Leguans.
Aus regenbogenbunten Zacken
grub sich seine Zunge
wie ein Speer ins Laubwerk,
der mönchsgleiche Ameisenbär betrat
den Urwald tänzelnden Fußes,
das Guanaco, leicht wie Luft,
stolzierte über die endlosen Höhen
in Schuhen aus Gold,
während das Lama unschuldig
die Augen hob auf den Glanz
einer Welt voller Tau.Die Affen flochten
einen unendlich sinnlichen Faden
an den Ufern der Morgenröte,
sie rissen Wände von Pollen nieder
und scheuchten eine violette Wolke
von Muzo-Schmetterlingen auf.Es war die Nacht der Kaimane,
eine klare Nacht, wimmelnd von Rachen,
die hervorkamen aus dem Schlamm;
aus dem schläfrigen Morast
kehrte ein dumpfes Geräusch von Panzern
zum irdischen Ursprung zurück.
America Inusrrecta (Aufständisches Amerika)
Unsere Erde, endlose Erde, Einsamkeiten, bevölkerte
sich mit Geraun, Armen und Mündern.
Eine verschwiegene Silbe begann zu lohen, die
geheime Rose zusammenrufend, bis die Grassteppen
bebten, von Metallen überzogen und Pferdegalopp.Wie eine Pflugschar hart war die Wahrheit.
Aufbrach sie die Erde, gründete das Verlangen,
versenkte ihre keimträchtigen Lehren und trat im
heimlichen Frühling ans Licht.Zum Schweigen gebracht ward ihr Blühen,
zurückgewiesen ihr Bund der Helle, bekämpft
der gemeinschaftliche Gärstoff, der Kuß der verborgenen
Banner, doch, die Wände zerbrechend, brach sie
hervor, den Boden von Kerkern befreiend.Das dunkelhäutige Volk war ihr Gefäß, es empfing die
zurückgewiesene Lebenssubstanz, verbreitete sie an
den Meeresgrenzen, stieß sie in unbändigen Mörsern klein.
Und es trat mit den gehämmerten Seiten und mit dem Frühling hinaus auf den Weg.
Stunde des Gestern, Mittagsstunde, heutige Stunde
wieder, Stunde zwischen der toten Minute und der,
die ersteht, erwartet in der stachlichten Ära der Lüge.Vaterland, du wurdest von Holzfällern erschaffen, von
unbenannten Söhnen, von Tischlern, von ihnen, die
gleich einem seltsamen Vogel, einen Tropfen
beflügelten Bluts dir gaben, und heute erstehst du von
neuem in Härte, von dorther, wo Verräter und
Kerkermeister dich wähnen für immer.
Heut wie damals gehst du aus dem Volk hervor.
Heut kommst du aus der Kohle und dem Tau der Nacht.Heute wirst du aufrütteln die Tore mit mißhandelten
Händen, mit Splittern überlebender Seele,
mit Bündeln von Blicken, die nicht ausrottete der Tod,
mit zornigem Werkzeug bewehrt unter den Lumpen.
Griechisch-Türkische Freundschaftsgesellschaft 1987
Ümit und Arife hatten es in letzter Sekunde geschafft, den Mordversuchen der türkischen Paramilitärs und Grauen Wölfe zu entfliehen. Essen wurde ihre neue Heimat. Wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre bei einer türkischen Hochzeit angefreundet. Ihre Wohnung wurde zu einem Ort, an dem vor allem Türken aus den verschiedensten Regionen und Griechen diskutierten und feierten. Ich legte Schallplatten mit Musik aus aller Welt auf. Und an manch langem Abend packten Freunde ihre Instrumente aus, und wir lauschten den Heimatklängen, sangen, mal gemeinsam, mal einzeln. Lediglich Ümit, ein exzellenter Saz Spieler (Langhalslaute), weigerte sich konstant, seine Saz hervorzuholen; die schrecklichen Erlebnisse in der Türkei, über die er nie sprach, hatten ihn verstummen lassen.
Einer der berühmtesten türkischen Sänger und Komponisten ist Zülfü Livaneli. Auch er musste als Regimekritiker bis Mitte der 1980er Jahre im Exil leben. Dort traf er Ende der 1970er Jahre Maria Farantouri. Ihre gemeinsamen Auftritte, auch in Deutschland, sollten die Gräben zwischen Griechen und Türken überwinden helfen. Ich legte ihre Platte „Ensemble“ von 1982 auf. Kaum erklangen die ersten Takte von Leylim Ley schloss Ümit die Augen. Beim zweiten Stück, Miroloi (Yiğidim Aslanım), ein von Frauen gesungenes Klagelied über den „mutigen Löwen“ (Yiğidim Aslanım) Kemal Atatürk, nahm Arife seine Hand. So saßen die beiden bis zu den letzten Klängen des wehmütig auf Mey und Saz gespielten To Kopadi. Niemand rührte sich. Dann stand Arife auf, holte die Saz, legte sie in Ümits Hände. Mit geschlossenen Augen stimmte er die Laute und begann zu spielen, suchend zunächst; dann erklangen erste Lieder, und er spielte und spielte und spielte. Bis zum frühen morgen lauschten wir still. Dann stand er auf und ging schlafen. Seit diesem denkwürdigen Tag war die Saz wieder ständiger Begleiter von Ümit.
Theodorakis nahm sich den griechischen Staatshaushalt zur Brust. Fast 70 % waren für Staat und Rüstung reserviert. Prozentual lagen die Ausgaben vor den USA und der Türkei. Die Begründung: Griechenland fürchtete die türkische Bedrohung, und umgekehrt wollte die Türkei gegen die griechische Bedrohung gewappnet sein. Theodorakis reiste in die Türkei, um gemeinsam mit türkischen Intellektuellen, darunter Zülfü Livaneli, für Völkerverständigung und Aussöhnung zu werben. Sie gründen 1986 die Griechisch-Türkische Freundschaftsgesellschaft, der es gelingt, dass sich Papandreu und Özal zu Verständigungsgesprächen treffen, leider ohne dauerhaften Erfolg. Kurz vor dem Start ihrer gemeinsamen Tournee im Frühjahr 1997 werden sie als Dank für ihre gemeinsame Arbeit vom deutschen Außenminister Klaus Kinkel offiziell empfangen. Ein netter Abend, der aber – wie so viele andere offizielle Abende – letztlich verpufft. Wir waren zum Auftaktkonzert nach Berlin gereist und genossen diesen wunderbaren Abend, der leider aufgrund der Erkrankung von Theodorakis keine Fortsetzung fand. Geblieben ist „Together„, die Liveaufnahme dieses Konzerts.
Letzte Momente
Im Juli 1995 erleben wir Theodorakis in München. Er dirigiert sein Zorbas-Ballett. Im Auditorium sitzt Anthony Quinn. Zum weltbekannten Sirtaki wird der 80 Jahre alte Quinn auf die Bühne geführt. Noch immer blitzt der alte Charme auf, als er sich zur Musik bewegt. Dann verlässt Theodorakis das Dirigentenpult. Die beiden liegen sich in den Armen und tanzen zur Musik. Wir Zuschauer toben.
Im Dezember 2012 sehe ich Theodorakis zum letzten Mal live. Als er, gestützt von seinen Begleitern, die er immer noch um Haupteslänge überragt, in Anzug, weißem Hemd und roter Krawatte den Saal des Wiener Konzert Hauses betritt, gibt es kein Halten mehr. Mit minutenlangen Ovationen begleiten wir Mikis zu seinem Platz.
Der Abend steht dann ganz im Zeichen seiner Werke, angefangen bei der Mauthausen Kantate bis zu seinem Requiem. Maria Farantouri begeistert erneut mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer nach wie vor wunderbaren Stimme. Auch wenn Mikis nicht mehr am Dirigentenpult steht, allein seine Anwesenheit erfüllt Künstler und Publikum mit ungeheurer Energie. Immer wieder erhebt er sich in seiner Loge und bedankt sich bei den Künstlern.
Sein letztes Konzert gibt Mikis 2017 im Panathinaikos Stadion in Athen. Nie zuvor hatte es in Griechenland einen Chor mit tausend Sängerinnen und Sängern gegeben. Sie bereiten Mikis einen unvergesslichen Abend. Als er schließlich im Rollstuhl auf die Bühne geschoben wird und selber einige seiner Lieder dirigiert, fliessen nicht nur im Publikum die Tränen. Auch Theodorakis läßt seinen Tränen freien Lauf.
Am 02. September 2021 stirbt Mikis Theodorakis in Athen.
Lesestoff
Aswestopoulos, Wassilis: Mikis Theodorakis, kurz & bündig Verlag, Frankfurt a. M. / Basel, 2018.
Hermann, Hansgeorg. Mikis Theodorakis – Der Rhythmus der Freiheit. Verlag Neues Leben, Berlin 2008 (auch antiquarisch nur schlecht zu bekommen)
Kutulas, Asteris: Mikis Theodorakis. Ein Leben in Bildern. Inkl. 2 CDs: Private Recordins – Ein Leben in 19 Musikstücken und einer DVD: Canto General (die chilenische Aufzeichnung)
Ritsos, Jannis: Gedichte. Bibliothek Suhrkamp Bd. 1077. Berlin, 1991.
Mit einem sehr lesenswerten Nachwort von Klaus-Peter Wedekind
Theodorakis, Mikis: Meine Stellung in der Musikszene. Schriften, Essays, Interviews 1952 – 1984; Reclam Leipzig 1986.
Theodorakis, Mikis: Startum und Snobismus – Tod der Musik. Sinn & Form 03/1983, S. 585 – 596.
Wagner, Guy: Mikis Theodorakis. Ein Leben für Griechenland. Ed. PHI Luxemburg, 1995 (nur antiquarisch; relativ teuer) |
http://www.mikis-theodorakis.org/index.php/de/chronologiede
umfassende Übersicht über Leben und Werk, Chronologien, Stücke, Musiker etc.
Hören
Mauthausen Kantate
Theodorakis Concert IV. Mauthausen und Le Ballade du Frère Mort (1966)
The Ballad of Mauthause
Canto General
Gesamtaufnahme Live München (1981)
Live In Chile (1993)
Die 18 Lieder der kleinen bitteren Heimat
Theodorakis Concert I. Chansons de la Patrie Amère (1974)
Epitafios (1983) mit Grigoris Bithikotsis und Manolis Chiotis
To Axion Esti (1983)
Oratorium nach einem Text von Odysseas Elytis
Arcadia V: March de L’esprit und Oedipus Tyrannus, London Live (1970)
Das Konzert vom 28. Juli 1970 beginnt mit folgendem Statement von Theodorakis:
„Vor achtzig Tagen war ich noch im Konzentrationslager und es ist ganz natürlich, dass mein Herz unter meinen Kameraden bleibt. Aus diesem Grund widmen wir dieses Konzert zusammen mit allen griechischen politischen Gefangenen, mit dem gesamten griechischen Volk und mit euch allen einem großen Dichter, einem großen Mann und einem Aktivisten, unserem geliebten Jannis Ritsos, einem Gefangenen der Junta.“
Requiem (1995)
Theodorakis schrieb das Requiem 1983/84 nach dem Tod seines Vaters. Es basiert auf Texten des Episkopen Johannes Damaskinos aus dem 5. Jahrhundert. Entgegen den Regeln der orthodoxen Kirche setzt Theodorakis auch Frauenstimmen ein. Im Begleitheft schreibt er: „Nach der Göttlichen Liturgie fühlte ich mich erlöst.“
Die Nachbarschaften der Welt (1985) Lyrik von Jannis Ritsos
Theodorakis & Zülfü Livaneli: Together. Live Aufnahme aus Berlin (1997)
Maria Farantouri & Zülfü Livaneli: Ensemble (1982)
Zum Reinhören
Theodorakis singt „Tamenos“ und „Tin Romiosini min tin kles“ (1974)
Epitaphios komplett
Ausschnitte aus dem Konzert von 1974 im Karaiskakis Stadion
To Axion Esti. Meros A‘: I Genesis Isagogi / Tote Ipe
March de L’esprit
Canto General: Algunas Bestias
Canto General: America Insurrecta
Requiem
Das letzte Konzert: 2017 in Athen