November 2022
 Geschichten

Mach mal ’nen Abflug

Genau passend entschwinde ich für zwei Wochen dem einsetzenden typischen Herbstwetter in Berlin und schnuppere nach langer Zeit mal wieder US-Luft. Jetzt ist es schon fast wieder ein Jahr her, dass ich mich auf dem Weg zum Flieger befinde. Corona und auch die Verlagerung meines Arbeitsschwerpunktes ins Inland haben auch hier ihre Spuren hinterlassen. Inzwischen ist die Zahl meiner Flüge von mehr als hundert auf nicht mal eine Handvoll pro Jahr geschrumpft.

In aller Hergottsfrühe bringt mich der Taxifahrer zum BER. Unterwegs erzählt er mir Geschichten aus seinem Fahrerleben. Er ist 72 und fährt seit Jahrzehnten. Eine Geschichte geht so:

Ein Fahrgast steigt ein und sagt: „Rush hour“. „Wo möchten Sie genau hin?“ „Rush hour“ lautet die einsilbige Antwort. „Geben Sie mir bitte eine genaue Adresse.“ Und wieder heißt es „Rush hour“. „Sprechen Sie Deutsch oder Englisch?“ „Warum reagieren Sie so aggressiv?“ raunzt plötzlich der Fahrgast. „Ich frage Sie doch nur höflich, wo Sie hinmöchten? Es gibt z. B. einen Großhandel mit diesem Namen, aber auch ein Striplokal. Ich kann also nicht einfach losfahren. Sagen Sie mir doch bitte, wo Sie hinmöchten.“ Der Fahrgast greift in seine Jacke und zieht einen 50 Euro-Schein raus. „Ich kann auch bezahlen.“ „Darum geht es noch gar nicht. Ich muss doch zunächst wissen, wo Sie hin wollen. Also, wie lautet das Fahrziel?“ „Nackte Weiber.“ „OK, dann fahre ich Sie zum Striplokal Rush hour.“ „Das sag ich doch die ganze Zeit.“

Etliche kleine weitere Geschichten folgen, gut erzählt und spannend. Ich frage den Fahrer, ob er die Geschichten denn nicht vor Publikum erzählen möchte. „Ja, eigentlich gerne; aber ich geniere mich. Ich habe das einmal fast versucht, dann aber doch nicht den Mut gehabt. Und aufschreiben kann ich die nur für mich. Das mache ich wie Kafka; der hat auch alles in Schulhefte geschrieben. Meine Geschichten kann ich nicht drucken. Die müssen erzählt werden. Da muss ich mit Mimik und Gestik arbeiten. Leider traue ich mich aber nicht. Es gibt sogar einen medizinischen Begriff dafür. Den habe ich aber vergessen.“

Wir haben dann noch über Youtube und weitere Möglichkeiten gesprochen. Aber keine Chance. Schade, ein wirklich guter Erzähler, dem ich morgens um Fünf gerne gelauscht habe und der gar nicht gemerkt hat, dass ich ja auch eine Form der Öffentlichkeit darstelle.

Am Flughafen verabschieden wir uns herzlich voneinander. Ich sehe ihm noch einen Moment hinterher und begebe mich dann ins Gebäude. Das Prozedere am Flughafen ist unkompliziert und geht zügig voran. Vielleicht liegt es an der frühen Zeit; aber von langen Schlangen und katastrophalen Zuständen sehe ich weit und breit nichts. Ich habe noch fast eine Stunde Zeit bis zum Abflug. Entspannt wandere ich durch Terminal 1. Der typische Heinemann Duty-Free Laden bietet das immer gleiche Sortiment. Ob Mc Donald oder die altehrwürdige Berliner Kaffeerösterei mit ihrem sehr empfehlenswerten Sortiment – überall herrscht bereits lebhafter Betrieb.

Das LH-Boarding erfolgt in der inzwischen üblichen Form nach Boardinggruppen, zunächst die „Bevorzugten“, dann für die Fensterplätze, gefolgt von den Mittelplätzen und zum Schluss die Gruppe 5 für die Reisenden am Gang. Alles sehr durchdacht. Nur mit dem Rucksack bewaffnet, ist der Gangplatz mein bevorzugter Platz. Wer allerdings bei voll besetzter Maschine mit einem Bord Trolley einen Gangplatz hat, kann zumeist sehen, wo er sein Gepäck noch unterbringt. Ätsch, alle Gepäckfächer längst zum Bersten voll. Und komme bloß nicht auf die Idee, die inzwischen geschlossenen Fächer in der Businessklasse zu öffnen.

Kurz vor Abflug brüllt der Purser ins Mikrofon:
Wer aus der Economyklasse hat seinen Koffer mit kariertem Überzug in der Businessklasse abgestellt. Holen Sie den Koffer sofort hier raus. Ansonsten lass ich ihn aus dem Flugzeug entfernen.

Allgemeines Kopfschütteln, Gelächter und das eine und andere hämische Grinsen, als der Passagier mit rotem Kopf seinen Koffer abholt. Ich frage die Stewardess, ob das zum neuen Ton bei der LH gehöre. Sie schüttelt den Kopf. „Dieser Purser regt uns alle auf.“ Und dann geht sie weiter. Wieso kann der Kerl dann seinen Job behalten?

Wir landen in Frankfurt. Ich laufe mir einen Wolf vom Landegate A 50 bis zum Abfluggate Z 69. Gut, dass wir so pünktlich sind. Jetzt bleibt mir noch hinreichend Zeit in der Transithalle herumzulaufen und mir einen Kaffee zu besorgen.

Einsam und ziemlich mitgenommen starrt ein Mittfünfziger in sein nahezu leeres Bierglas. Auf meinem Rückweg steht ein frisch gezapftes vor ihm. Das wievielte? Ob er es selber weiß? Ich stelle mich bei einem der üblichen Restaurants mit Takeaway an, um mir einen Cappuccino und eine Rosinenschnecke zu holen. Vier Menschen vor mir. Das sollte schnell gehen. Irrtum. Der Erste kann sich nicht entscheiden und verschwindet nach längerem Hin und Her ohne Einkauf. Dann zwei junge Kerle, so um die Dreißig. Ihre Bestellung scheint ziemlich umfangreich. In aller Ruhe tippt der Verkäufer die Bestellung in seine Kasse. Dann schleicht er zur Zapfanlage. Gottseidank sprudelt das Bier schneller aus dem Hahn, als er läuft. Als er es vor den Kunden abstellt, hat sich der Schaum in Wohlgefallen aufgelöst. Er startet den zweiten Gang zum Zapfhahn. Diesmal wird es ein Hefeweizen und ein Bier, selbstverständlich alles in der handlichen Halbliterversion. Der eine junge Mann hat inzwischen den Lieferservice übernommen und bringt die Getränke zu seinen wartenden Freunden. Zum Bier kommen noch Wiener- und Weißwürste und allerlei anderer Kram. Insgesamt eine Prozedur von gefühlter Ewigkeit. Als nächstes eine junge Frau, die sich ihre Cola bereits aus dem Getränkeschrank genommen hat. Sie knallt einen Fünfer auf die Theke und verschwindet sichtlich genervt. Der Herr vor mir will nur einen Kaffee.

Endlich bin ich an der Reihe, bestelle, bezahle und setze mich wenige Schritte entfernt auf eine harte Holzbank mit Tisch. Ich schaue auf die Uhr. Es sind nur fünfzehn Minuten vergangen. Ich bin im Entspannungsmodus. Aber wehe, ich hätte es auch nur ein ganz klein wenig eilig gehabt, ich wäre ohne Verpflegung oder aber abgehetzt von dannen gezogen.

Die Viererbande steht wieder an und bestellt die nächste Runde Bier. Ich breche auf und bewege meine Knochen. Ich werde später noch lange genug sitzen. Jetzt achte ich mehr darauf, was die Menschen am frühen Morgen verputzen. Immerhin sind sie alle auf dem Weg nach Irgendwo. Bier und Würstchen scheinen fast genauso gut zu gehen, wie Kaffee und Gebäck. Kuchen ist eher die Ausnahme. Erstaunlich.

Dann ab zum Gate. Mir ahnt Schlimmes, als ich das Preboarding für Eltern mit Kind erlebe. Von allen Seiten werden Kinderwagen, Kinderwagen und noch mehr Kinderwagen zum Gate geschoben. Später wird mich im Flieger eine Dauerbeschallung aus Kindergeschrei, hinter Flummibällen und sonst was herrennenden Blagen, genervten Eltern und noch mehr Kindergebrüll viele Stunden unterhalten. Aus welchem mir völlig unerklärlichen Grund müssen Eltern ihre Säuglinge und unerzogenen Terroristen durch die Weltgeschichte gondeln? Können die nicht wenigsten ihre ersten zehn Jahre zuhause verbringen? Keiner kann mir erzählen, dass die alle ihre Großeltern in der Ferne wohnen haben und nun von den Alten magnetisch angezogen werden, es sei denn, … Aber den Gedanken behalte ich besser für mich. Und selbst wenn, dann sollen die Eltern ihren stolzen Nachwuchs von mir aus jeden Tag fünf Stunden per Teams oder Zoom oder Skype oder sonst was den Freunden und Verwandten präsentieren. Im Übrigen hatte ich bereits vor gefühlt hundert Jahren der Lufthansa vorgeschlagen, für Eltern mit Babys und kleinen Kindern einen schallisolierten Bereich im Flieger zu reservieren. Das kam nicht gut an. Da frage ich mich, wer eigentlich Rücksicht auf mich nimmt?

Ich hatte Premium Economy gebucht. Gangplatz. Rechts von mir eine ältere Dame. Früh um 10:00 werden die ersten Getränke angeboten. Meine Nachbarin möchte irischen Whiskey.

Wir haben Weißwein, Rotwein, Sekt und Bier im Alkoholausschank, aber keinen Whiskey.
Dann nehme ich Rotwein, sofern er nicht zu kalt ist.
Fühlen Sie. Die Stewardess hält der Dame die Flasche hin.
Ist O. K.
Möchten Sie auch ein Glas Wasser dazu?
Nein, wozu das denn.

Kurz nach dem Start verteilt eine Stewardess die Speisekarten. „Sind Sie so gut und teilen sich eine Karte?“ Wir sehen uns ungläubig an. „Das ist doch ihr Mann“, wendet sie sich halb fragend halb feststellend an meine Nachbarin. „Wie kommen Sie denn darauf? Wir sind nicht verheiratet.“ „Ach so, dann also Ihr Lebensgefährte.“ Ich pruste. Die Dame ist zornesrot. Die Stewardess gibt auf und reicht jedem von uns ein billiges Stück Papier.

„Die hätte doch sehen können, dass ich viel älter bin als Sie. Ich bin 83. Außerdem trage ich einen Ehering und Sie nicht. Aber den Ring trage ich auch nur auf den Reisen, die ich alleine mache. Das hält dann doch einige Casanovas auf Distanz. In drei Wochen fliege ich nach Asien, dann aber wieder Business. Ich treffe Wissenschaftler aus verschiedenen asiatischen Ländern und bringe sie mit europäischer Wissenschaft zusammen.“

Bevor sie weitererzählen kann, kommt der Purser und spricht meine Nachbarin namentlich an. Er fragt, ob alles in Ordnung sei und ob sie Wünsche habe.
Ich hatte eben schon einen irischen Whiskey bestellt. Der wurde mir aber verweigert.
Ich hole Ihnen gleich einen. Wir haben aber leider keine Auswahl.
Das macht nichts. Hauptsache irischer Whiskey.
Kurz darauf steht das gut gefüllte Glas Whiskey neben der zweiten Fuhre Rotwein.

Zum grauenhaft schlechten Essen – entweder in Tomatensauce schwimmende Rigatoni mit einem „Geflügel Piccata“, einem nahezu undefinierbaren Stück Fleisch, das mal ein Teil von einem Huhn gewesen sein soll oder ein „Kürbis-Kastaniengulasch mit Spätzle“ in einer dicken Sahnepampe. Ich lasse das Huhn stehen.

Die Dame verputzt ihr Gulasch mit einem weiteren Becher Rotwein. Sie lächelt mich an. Das Essen ist wirklich nicht besonders; aber ich bin ja auch nicht zum Essen hier.
Na, das hatte ich inzwischen auch bemerkt.

Vergeblich sucht meine Nachbarin im verteilten Reisebeutel nach Kopfhörer und Erfrischungstuch. In der Tat macht der Beutelinhalt seinem Namen „Porsche Design“ mit Aufdruck „LH Business Class“ nur schwerlich Ehre. Die herbeigerufene Stewardess liefert die beanstandeten Dinge. Meine Nachbarin steckt sich die Stöpsel in die Ohren, lässt sich nach einiger Diskussion mit der Stewardess noch einen Whiskey und einen Rotwein bringen und verkriecht sich unter ihre Decke. Die nächsten zwei Stunden höre ich sie nur noch leise schnarchen. Sie erwacht. Ihr erster Griff gilt dem Rotwein, der in Sekundenschnelle durch ihre Kehle rinnt. Dann erzählt sie mir noch ein paar Geschichten aus ihrem Leben.

Kurz vor der Landung nimmt sie noch einen Tomatensaft ohne Salz und Pfeffer. Als die Stewardess das Glas füllen will, wird sie kurz und bündig gestoppt.
Ich beende meine Flüge immer mit einer Bloody Mary. Also lassen Sie genügend Platz für den Vodka. Ich nehme immer einen Doppelten.
Aber Sie haben nur Tomatensaft bestellt. Und Vodka haben wir nicht.
Gehen Sie zum Purser in der Business Klasse und bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir. Und dann kommen Sie mit dem Vodka zurück. 

Bilanz nach 10 Stunden Flug:
6 Becher Rotwein – passend, Becher und Flasche aus Plasik.
2 Gläser Irischer Whiskey – Gläser, kamen ja auch aus der Business Klasse.
1 Becher Bloody Mary mit doppeltem Vodka – wieder Plasik.
Und sie schwankte nicht einen Millimeter beim Ausstieg.