April 2024
 Geschichten

Klopapier

Es ist schon einige Jahre her. Ich saß am JFK in New York und wartete auf meinen Abflug. Eine Asiatin setzte sich neben mich. Wir kamen ins Gespräch über Gott und die Welt. Sie berichtete von ihren Erlebnissen mit Menschen aus den westlichen Ländern und vom Anspruchsdenken gegenüber dem Staat, das sie gar nicht nachvollziehen könne.

Bei uns in Vietnam ist es dagegen selbstverständlich, dass sich Familien z. B. krumm legen für eine gute Ausbildung ihrer Kinder. Auch Großeltern geben Geld für die Ausbildung ihrer Enkelkinder. Oft sind es nur Kleinstbeträge; aber sie haben nicht nur eine finanzielle, sondern vor allem auch eine emotionale Komponente. Für die Kinder und Enkelkinder entsteht daraus eine Schuld. Sie müssen ihr Bestes geben, um den hohen Anforderungen in der Schule gerecht zu werden. Und sie müssen sich lebenslang gegenüber ihren Eltern und Großeltern dankbar zeigen.

Was aber hat das mit Klopapier zu tun?

Die Asiatin erzählte mir, dass sie aus einem eher ärmlichen Elternhaus stamme. Mit eisernem Willen hätten ihre Eltern jeden „Cent“ gespart, um ihrer Tochter eine gute Ausbildung zu ermöglichen.

Meine Eltern haben jedes Blatt Klopapier viermal gefaltet, um den Verbrauch und damit die Kosten zu senken. Ein solches Verhalten ist mir im Westen noch nie begegnet. Da wird selbst mit Klopapier verschwenderisch umgegangen. Ich habe in Hotels erlebt, dass angefangene Rollen immer wieder durch neue ersetzt werden.

Und damit sind wir beim Thema

In der Tat, in vielen Hotels finden wir immer eine neue Rolle Klopapier eingelegt. Aber was passiert mit den angefangenen Rollen, die wir nach unserer Abreise zurücklassen? Finden die noch Verwendung, oder wandern die in den Müll?

Einige Zahlen

Nicht nur der WWF beklagt immer wieder den weltweit hohen und steigenden Bedarf an Papier, der sich schädlich auf unsere Umwelt auswirkt. Für die Herstellung von Toilettenpapier greifen die meisten Produzenten auf Zellstofffasern aus Holz zurück. Ihren Bedarf decken sie häufig durch schnell wachsenden Eukalyptus, der nicht selten auf (brand-)gerodeten Urwaldflächen angebaut wird. Dazu der WWF:

Die Monokulturplantagen verbrauchen enorm viel Wasser. Zur Weiterverarbeitung reist der Holzzellstoff anschließend um die halbe Welt. Für ein besonders weiches Hautgefühl, einen angenehmen Duft oder das Bedrucken mit niedlichen Motiven wird das Frischfaserpapier mit Chemikalien versetzt. Eine noch größere Umweltsünde sind Feuchttücher, in denen fast immer Kunststoff steckt.

Wie nachhaltig ist Toilettenpapier? | National Geographic

Für die Herstellung einer Tonne Klopapier aus Primärfasern benötigt man laut Umweltbundesamt u. a. mindestens 2,2 Tonnen Holz und fast 5 Megawattstunden nicht erneuerbare Energie. Das entspricht etwa dem Jahresverbrauch von zwei 4-Personen Haushalten. Darüber hinaus fallen fast 50 Kubikmeter zumeist stark mit Chemikalien belastetes Abwasser an.

Laut Statista verbrauchen wir pro Person im Schnitt rund 12,1 Kg Klopapier im Jahr; das sind ca. 134 Rollen. Unangefochtener Weltmeister im Verbrauch sind die USA mit 141 Rollen. Japan folgt mit 91 Rollen auf Platz vier.

Bereits ein Mehrfamilienhaus mit 82 Bewohnern spült ca. 1 Tonne Klopapier im Jahr in die Kanalisation.

Im letzten Jahr hatte Deutschland 191 Mio Hotelübernachtungen ohne Hotels Garni. Ohne Berücksichtigung der Einzelheiten, z. B. mehrtägige Übernachtungen, Zimmerbelegung mit mehr als einer Person etc., weist die Zahl bereits auf die gewaltige Menge an Klopapier, die allein in Hotels eingesetzt wird.

Im Jahr 2023 wurden ca. 1.500 bis 2.000 Tonnen Klopapier in deutschen Hotels eingesetzt, von denen nur ein Teil auch tatsächlich verbraucht wurde.

Jedes eingesparte Blatt Klopapier hilft der Umwelt.

Jedoch ….
Seit Jahren steigt der Verbrauch weltweit. Ein Ende der Fahnenstange ist laut Statista nicht in Sicht.

Der Stachel saß in unserem Fleisch.

Wir haben in den USA, in Japan und in Deutschland geforscht, um die optimale Anzahl an Blättern auf einer Rolle Klopapier in Hotels zu bestimmen und so der Verschwendung von Ressourcen entgegenzuwirken.

Hier unsere bisherigen wegweisenden Ergebnisse:

Die Amerikaner schmeißen angefangene Rollen Klopapier in den Müll. Der wandert in großen Plastiksäcken aus den Hotels auf die Straße. Da warten schon die Obdachlosen, die Armen, die Hungernden, die Frierenden, um sich aus den Säcken Nützliches zu holen. Richtig: Dazu gehört auch das Klopapier, das bis zum letzten Blatt aus den Säcken geklaubt wird. Anschließend kommt die Müllabfuhr und entsorgt den übrigen Müll.

Fazit: Was auf den ersten Blick wie Verschwendung von Rohstoffen aussieht, ist in Wirklichkeit eine gute Tat. Daher ist für die Amerikaner die Anzahl der Blätter auf der Rolle immer optimal. Denn jedes Blatt wird genutzt.

Die Japaner machen das anders. Angefangene Rollen Klopapier werden aus den Hotels an eine Sammelstelle geschickt. Dort, so konnten wir in Augenschein nehmen, gibt es eigens ausgebildete Klopapierwickler. Die wickeln mit einer Affengeschwindigkeit angefangene Rollen Klopapier zu einer neuen vollen Rolle auf, selbstverständlich immer mit exakt der gleichen Anzahl an Blättern. Und, typisch asiatisch, mit millimetergenauer Kante und nicht etwa krumm und schief.

Fazit: Auch in Japan stellte sich die Optimierungsfrage nicht, da jedes Blatt zur Verwendung kommt.

Ja, und bei uns im ordentlichen Deutschland? Angefangene Rollen Klopapier verschwinden im Müll. Als wir diese besorgniserregende Erkenntnis 2016 unserer Bundesumweltministerin vorstellten, war sie entsetzt. Grundgütiger, da könnten ja viele tausend Bäume noch leben und uns gute Luft bescheren. Und ohne die giftigen Abwässer fühlten sich unsere Fische in den Flüssen wieder pudelwohl. Da müssen wir ganz schnell was tun.

Das Projekt Klopapier

Und schwupps wurde das „Projekt Klopapier“ ins Leben gerufen. Die Gesamtleitung übernahm ein eigens berufener Staatssekretär mit seinem Team. Wir wurden mit der Erstellung der begleitenden wissenschaftlichen Studie beauftragt.

Hier der bisherige Stand:

Bereits die Suche des Projektleiters gestaltete sich als ausgesprochen schwierig: nach ausführlichen Vorgesprächen der vom Ministerium beauftragten Personalberatung mit 35 potentiellen Kandidaten, wurde mit ausgewählten zehn „heißen Fällen“ ein dreitägiges Assessment durchgeführt. Die Details dazu erspare ich uns. Nach sechs Monaten intensiver Suche und zwei Absagen, war der Projektleiter endlich gefunden.

Nach weiteren drei Monaten, in denen in langwierigen Verhandlungen Details wie Arbeitszeit, Homeoffice, Kinderbetreuung, Dienstwagen, Reisespesen, Firmenkreditkarte, etc. geklärt wurden, konnte er mit seiner Arbeit beginnen.

Dem Projektleiter oblag es, sein 15-köpfiges Projektteam zusammen zu stellen. Dabei hatte er unbedingt die Grundregeln diverser Teams einzuhalten. Dazu gehören altersgerechte Verteilung, angemessene Berücksichtigung von Männern und Frauen, Behinderten, Schwulen, Lesben, Transgendern, Flüchtlingen, allen großen Religionen, etc., etc. Diese Aufgabe konnte lange Zeit nicht befriedigend gelöst werden. Ein Grund: Das Team war zu klein, um all die notwendigen Gruppen zu berücksichtigen. Erst die Aufstockung des Teams auf insgesamt 43 Mitglieder führte zu halbwegs befriedigendem Ergebnis.

Standort- oder virtuelle Teams: Die Projektgruppe sollte auch die verschiedenen Regionen Deutschlands umfassen. Das führte zu der Frage, ob es sinnvoll sei, das Team an einem zentralen Standort zu verorten. Die Entscheidung fiel auf Regionalisierung mit Vertretern aus den jeweiligen Regionen, damit z. B. sprachliche Besonderheiten der Regionen bei der Feldarbeit berücksichtigt werden. Die Zahl der Teammitglieder stieg um weitere 16 Mitglieder auf 59.

Leider agierten die regionalen Teams im Laufe der Zeit immer autonomer und missachteten Vorgaben der Zentrale. Dadurch stieg die Notwendigkeit von zusätzlichen Meetings mit den Regionalleitern in der Zentrale, verbunden mit einem Anstieg der Reisekosten.

Besonders aufwendig und nervenzerreibend gestaltete sich die Bestimmung der Untersuchungskriterien. Hier nur eine kleine Auswahl:

Das Projekt war ursprünglich auf ein Jahr kalkuliert, verzögerte sich aber angesichts der oben genannten Faktoren zunächst um drei Jahre. Wegen stressbedingter Erkrankung des Projektmanagers, streik- und unwetterbedingter Reiseverzögerungen der Projektmitglieder, nicht eingeplantem Erziehungsurlaub sowie Abzug einiger Projektmitglieder in andere Projekte, konnte das „Projekt Klopapier“ bislang noch nicht abgeschlossen werden.

Der Budgetrahmen von 4 Mio EUR ist inzwischen um knapp 600 % überschritten.

Hauptgründe:

Ende 2020 legten wir dem Umweltministerium einen vorläufigen Bericht vor, in dem wir abschließend zwei Varianten vorschlugen:

Entweder
Einstellung des Projektes wegen zu vieler Parameter
oder
Fortsetzung und länderübergreifende Ausweitung der Untersuchung auf die EU.

Im Umweltministerium fiel die Entscheidung ganz klar auf Projektausweitung.

Das EU-Projekt Klopapier

Anschließend stellte unsere Umweltministerin das Projekt im Kreis ihrer EU-Kolleginnen und Kollegen vor und erntete viel Beifall. Noch nie hatte ein EU-Mitglied über diesen kontinuierlichen Akt der Umweltbelastung nachgedacht.

Nach nur zwölfmonatiger Beratung kamen die Ministerinnen und Minister überein, das „EU-Projekt Klopapier“ zu starten:

Wir werden über den Fortgang des Projektes berichten.

Nachtrag

Wir haben im Übrigen bei unseren Studien ganz nebenbei ermittelt, dass die durchschnittliche Verweildauer auf dem Klo exponentiell steigt, sobald ein Smartphone die Klobesucherin / den Klobesucher begleitet. Auch die Anzahl der Apps auf dem Smartphone führt zu einer verlängerten Verweildauer.

Wir haben dazu bereits einen ersten Vorschlag für unser nächstes Treffen mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie entwickelt: Wir schlagen vor, die Klozugänge in den Firmen mit Handysensoren auszustatten. Die verriegeln den Zugang sofort, sobald jemand mit Smartphone aufs Klo will. Dadurch lässt sich die Nettoarbeitsleistung um mindestens 10 % steigern.