Emanzipation im Revier
Wir schreiben das Jahr 1975. Schulschluss. Ein nahezu unendlicher Strom an Teenagern bewegt sich auf die Straßenbahnhaltestelle zu. Nach sechs Stunden Lust und Frust im Unterricht knurrt allen der Magen. Die Kinder aus Mülheim an der Ruhr stecken wie immer zusammen. Heute hat das heimische Mittagessen gegen den Duft der Pommesbude den Kürzeren gezogen.
Jetzt heißt es, schnell sein und eine Schale Pommes ergattern bevor die Bahn kommt. „So ein Mist“ brüllt Dirk. „Ich habe die Arschkarte gezogen. Pommes ade.“ Und schon rennt er mit langen Zähnen den Bahnsteig hinauf.
Alle stehen dicht gedrängt. Der Pommesduft wabert durch den Wagen. Ulla schiebt sich verzückt eine Fritte nach der nächsten in den Mund. Da dringt ein Fremdkörper in ihre Schale, stibitzt eine Fritte und zieht sie genüsslich durch die holländische Originalmaionaise. „Boah, die sind aber lecker“ kommt es von Dirk. Ulla schaut völlig indigniert in ihre Schale. „Weißte was, kannste alle haben!“ Und schon klatscht Dirk die umgekehrte Schale inklusive Maio auf seine schwarze Haarpracht. Eine einzige Schweinerei aus Kartoffeln, Fett und Maio inklusive Schale. Die entführte Fritte noch halb im Mund, thront das großzügige Geschenk mit allem Drum und Dran auf seinem Haupt.
Es dauert einen Augenblick bis Dirk kapiert, was da gerade passiert ist. Begleitet von schallendem Gelächter von allen Seiten senkt er seinen Kopf in Zeitlupe. Fast sieht es aus wie eine Demutsbezeugung. Fettige Schmiere zieht sich durch sein Gesicht. Fritten platschen auf den Boden. „Weißt Du Dirk“, grinst Ulla, „wir Frauen aus’m Pott lassen uns von keinem Kerl die Butter vom Brot, bzw. die Pommes aus der Schale klauen.“