Die Strohms
Die gewaltige Burganlage der Grafen von Bentheim überragt das kleine Städtchen und scheint allen Unbilden der Zeiten schadlos Stand zu halten. Hier, in der schmalen Unterstraße, unweit von Schuster Jürjens, dem Einohrigen und nur ein paar Minuten Kraxelei zur Burg hoch, lebt seit jeher die Familie Strohm in ihrem kleinen Häuschen. Liebevoll streicht Vater Wilhelm, Jahrgang 1900, Jahr für Jahr das Haus, mal in Gelb, dann in Grün oder auch in Violett. Jeder im Städtchen kennt diese Marotte und diskutiert gerne mit ihm über die Farbwahl. Violett war auf jeden Fall ein Fehlgriff. Da sind sich alle, auch Wilhelm, einig.
Früh am Morgen zieht er die schwarze Arbeitshose, seine Joppe mit den dicken, glänzenden Knöpfen und die schweren Arbeitsschuhe an. Zur Ausrüstung gehört auch seine Bahnwärtermütze. Ob Gerhard Hauptmann an Wilhelm dachte, als er seinen Bahnwärter Thiel schrieb? Wilhelm schwingt sich auf sein Rad und strampelt los. Sein Arbeitsplatz, das Schrankenwärterhäuschen, liegt mitten im Wald zwischen Bentheim und Schüttorf. Nur wenige Male am Tag muss er raus und die Schranken runterkurbeln.
Lange Zeit war mir nicht bekannt, dass Bahnwärter, die später Schrankenwärter hießen, nicht nur die Schranken bedienten, sondern im Wesentlichen die Kommunikatoren zwischen den Bahnhöfen und mit dem Zug waren. Die Posten durften nie zu weit auseinander stehen. Anfangs verständigten sie sich durch Hornsignale, die allerdings nicht immer gehört wurden mit manchmal unerfreulichen Folgen für Mensch und Tier. Flaggen und bei Dunkelheit Laternen verbesserten die Sicherheit zumindest der Menschen. Mit der Einführung der Telegrafie verschwanden diese Aufgaben und Wilhelms Arbeit wurde zunehmend auf wenige Einsätze an der Kurbel reduziert. Aber es gab eine Besonderheit, auf die er sehr stolz war: er war als Schrankenwärter zugleich vereidigter Bahnpolizeibeamter. Einmal, so erzählte er mir gerne, habe er einen Materialdieb auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Aber offensichtlich waren die allermeisten Täter Wilddiebe, die er gut kannte und selbstverständlich gegen eine kleine Gabe in Naturalien laufen ließ.
Steil fällt der Garten in der Unterstraße ab. Er versorgt die Familie mit Kartoffeln, Karotten, Bohnen, Erbsen und Kohl. Im Sommer liefern Erdbeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren die Grundlage für Marmelade und Gelee. Oma Strohm und die Kinder sind für die Beerenernte zuständig. Im Schatten der Apfelbäume entrappen sie die Johannisbeeren und knipsen von den Stachelbeeren die kleinen Stiele. Im Herbst, wenn die roten Boskop Äpfel leuchten, laufen die Kinder morgens vor der Schule in den Garten und sammeln die heruntergefallenen Äpfel. Papa Wilhelm steht schon auf der langen Leiter. Ganz systematisch zupft er die reifen Äpfel von ihren angestammten Plätzen und legt sie in seinen Korb. Nur unverletzte Äpfel kommen in die Winterlagerung und liefern mit ihrem hohen Säuregehalt bis ins kommende Frühjahr Vitamine und Genuss. Der Rest wird für Apfelmus, den Sonntagskuchen und Apfelpfannkuchen mit Zimt und Zucker genutzt.
Kurz vor dem Treppenabstieg in den Garten zwitschern Sittiche, Kanarien und Finken in ihrer Voliere. Loretta, ein Grünflügelara ist Opas ganzer Stolz. Wenige Jahre vor seinem Tod verriet er mir sein Vogelgeheimnis. Wir radelten über die Grenze ins nachbarliche Holland und kauften Kartoffeln, Zwiebeln und einige weitere Lebensmittel. Die packte er in seine Anhängerkarre. Und mitten zwischen all das Gemüse steckte er zwei kleine Käfige mit Sittichen. Niemand kontrollierte uns. Opa Strohm erzählte mir ganz nebenbei, dass er seit Jahrzehnten einen lukrativen grenzüberschreitenden Handel mit Vögeln betreibe. Und da es von jeher ganz normal war, dass die Menschen der Grenzregion zwischen den Grenzen hin und her wuselten, gab es praktisch keine Kontrolle. Auch wenn die Zöllner selbstverständlich wussten, dass ein schwunghafter Handel mit allem Möglichen gang und gäbe war.
Wilhelm Strohm hatte noch einen Lieblingsort: das 1922 von Franziskanern gegründete Kloster Bardel, nur einen Steinwurf von Bentheim entfernt. Ich hatte gerade meinen R 4 mit 26 PS erstanden und stattete der Familie in Bentheim einen Besuch ab. Wilhelm nahm mich zur Seite. „Komm Jung, wir fahren zum Kloster.“ Ich musste den Wagen rückwärts vor ein Kellerfenster parken. Dann ging es ab in die Tiefen des Klosters, durch lange, feucht kalte Gänge. Schließlich wies Opa Strohm auf einen gusseisernen Kerzenständer mit zahlreichen Blumenornamenten. „Der ist für Dich. Du hast doch Spaß an solchem Kram. Den kannst Du auch als Blumenständer nutzen“ „Und was sagt das Kloster dazu?“ „Mach Dir keine Gedanken. Das habe ich alles mit denen geklärt.“ Und Schwupps landete der gut einen Meter hohe bleischwere Kerzenständer im Auto. Draußen trafen wir dann noch einen Franziskaner, der Opa Strohm herzlich begrüßte und ihm noch eine Kiste mit Tomaten schenkte. Auf dem Rückweg erzählte Opa Strohm, dass er seit vielen Jahren ein Freund des Klosters sei. Er tapezierte und strich Wände im Kloster, unterstützte in Erntezeiten und half auch an Schlachttagen. Seinen Lohn erhielt er in Naturalien.
Die Strohms hatten fünf Kinder. Das Älteste, Willi, starb mit wenigen Jahren an Lungenentzündung. Von den übrigen vier – zwei Jungen und zwei Mädchen –brachten Wilhelm zwei oft um den Schlaf. Ohne feste Arbeit und ohne feste Bindung soff sich Willi II, das Nesthäkchen, immer wieder ins Koma, fuhr sein Auto im dicken Kopf zu Schrott und landete nach einigen vergeblichen Entziehungskuren in der Psychiatrie. Dort fühlte er sich wohl, begann mit Aushilfsarbeiten in der Küche und lernte eine Frau kennen, die an einer merkwürdigen Parfumsucht litt. Die beiden zogen später außerhalb der Psychiatrie in eine kleine Wohnung. Als seine Frau nach einigen Jahren wieder in die Psychiatrie kam, reichte es ihm. Mit gerade einmal 50 Jahren schüttete er sich mit Schnaps und Bier voll und erhängte sich.
Tochter Margret lebte in Haaksbergen mit Eduard, einem holländischen Nichtsnutz zusammen. Eduard hasste Arbeit. Am liebsten zog er sich ins Dachgeschoss zurück und verbrachte Stunden an seinen Funkgeräten. Margret war für den Broterwerb und den Haushalt zuständig. Während das eine noch klappte, glich das Haus bald einem Dreckstall. Auf jeder Treppenstufe nach oben türmten sich Groschenhefte, Prospekte, Schmutzwäsche und Hinterlassenschaften ihrer Hunde und Katzen. Schon bald weigerte ich mich, in einem der nach Tierpisse stinkenden Sessel Platz zu nehmen, geschweige denn auch nur einen Schluck Kaffee aus den versifften Tassen zu trinken. Nach Eduards Tod kam Margret in ein betreutes Heim für psychisch instabile Personen. Lediglich ein holländisches Ehepaar aus der Nachbarschaft besuchte sie regelmäßig und organisierte auch nach Margrets Tod ihre Beerdigung.
Willies älterer Bruder war Heinz-Friedrich, Jahrgang 1939. Er fand nach dem Krieg in Bentheim keinen Ausbildungsplatz und landete in Hagen Haspe, im Lehrlingsheim der Hasper Hütte. „Hey, wer bis‘n Du?“ „Ich bin Heinz-Friedrich.“ „Wer?“ „Heinz-Friedrich aus Bentheim.“ „Heinz wer?“ „Mensch, Heinz-Friedrich“. Leises Glucksen, schwillt an, bricht sich Bahn, wird zum Brüllen, Tränen rollen, kein Halten mehr. Heinz-Friedrich ist umringt von Italienern, Polen und vor allem vielen Türken, die sich vor Lachen den Bauch halten. „Nä, nä, das geht gar nich. Wer soll sich datt denn merken? Du heißt ab jetzt Ali.“ Und in der Tat, bis zu seinem Tod wurde Heinz-Friedrich von allen nur noch Ali genannt, es sei denn, seine Frau Helga war sauer auf ihn.
Onkel Ali war eines dieser eigenartigen Wesen, aus denen Loriot seine wunderbaren Geschichten strickte. Ali hielt an jeder Telefonzelle und prüfte, ob jemand das Wechselgeld im Schacht vergessen hatte. Er sammelte jede leere Pfandflasche, die seines Weges lag. Und er kaufte Sonderangebote in großen Mengen und rechnete seiner entsetzten Frau vor, wieviel Geld er gespart hatte. So kamen wir z. B. in den Genuss von 500 Gramm Pfeffer. Er hatte ein Sonderangebot genutzt und 10 kg Pfeffer erstanden. „Was zum Teufel sollen wir damit machen?“ schrie Tante Helga. „Bist Du noch zu retten. Der reicht doch für 100 Jahre. Den kannst Du doch nach einigen Jahren auf den Müll werfen.“ Nach heftigen Diskussionen begann Onkel Ali, Pfeffer zu verschenken. Ähnliche Anfälle überkamen ihn bei Sonderangeboten mit Löwensenf, Ketchup, Mayonnaise, Butter, Hartwurst und anderen „unbegrenzt haltbaren lebensnotwendigen Produkten“, die sich dann lange im Keller der Familie stapelten.
Onkel Ali blieb bis zuletzt der Hasper Hütte treu, auch, als er sich längst durch seine jahrelangen Reinigungsarbeiten in den Öfen der Hütte mit Asbest verseucht hatte, ihm der Krebs in die Lunge gekrochen war und er nur noch als röchelnder Pförtner zur Arbeit schleichen konnte. Auf der Beerdigung weinte sich sein jüngstes Enkelkind lauthals den Schmerz aus dem Leib und rief immer wieder nach Opa Ali.