August 2022
 Geschichten

Der Aufenthalt II

Mittwoch 03.08. bis Freitag 12.08.2022

Böse Stimmen behaupten, ich ginge ins Krankenhaus, um Geschichten zu sammeln. Weit gefehlt. Hier die grausame Wahrheit:

Wie sich die Bilder gleichen. Statt Klaus liegt heute Frank neben mir. Auch aus dem Osten, Brandenburger, knapp vor 62, Rentner, Raucher, übergewichtig. Noch sind seine Füße in Ordnung. Dafür hapert’s mit dem Rücken. Dazu aber später mehr.

09.04. – 02.08. Die Zwischenzeit

Kurz vor meiner Klinikflucht am 09.04. (s. Der Aufenthalt) hatte ich zwei dringende Aufgaben zu erledigen: erstens benötigte ich kurzfristig die Anschlussheilbehandlung, sprich Physiotherapie. Und zweitens musste ich eine Praxis finden, die mir die Klammern entfernte und mich orthopädisch weiter betreute. Wer glaubt, das sei ein leichtes Unterfangen, kann das ja mal in Berlin versuchen.

Erster Anruf bei einer orthopädischen Unfallpraxis. Frühest möglicher
Termin in 6 Wochen teilt mir die junge Dame am Telefon mit.
Da sind die Klammern aber doch schon fest mit meinem Fleisch verwachsen.
Wir kriegen die trotzdem raus.
Entschuldigung, ich wusste nicht, dass ich beim Metzger gelandet bin.

Kopfschüttelnd lege ich auf, gehe meine Liste aus dem Netz weiter durch, Anruf für Anruf bzw. Online Terminabfrage für Terminabfrage. Den Professor vom Kudamm rufe ich nicht an. Wieso hat der jeden Tag zahlreiche Termine frei? Da stimmt doch was nicht. Schließlich werde ich fündig und lande in einer Praxis mit zwei Orthopädinnen / Unfallchirurginnen. Eine Aufgabe erledigt.

Die Prozedur wiederholt sich bei der Suche nach einer Physiopraxis, die mich kurzfristig nimmt. Wartezeiten von 4 bis 6 Wochen scheinen völlig normal zu sein. Nachbar Dieter ist schließlich die Rettung. Er war gerade selber auf der Suche nach einer Praxis und entdeckte eine Baustelle mit dem Hinweis „Coming Soon“ plus Telefonnummer. Ein schneller Griff zum Telefon, und schwupp hatte er einen Termin am Folgetag. Gleiche Prozedur bei mir: Ich kann direkt am Montag in der Baustelle aufschlagen.

Jennifer öffnet mir mit einem strahlenden Lächeln. Ziemlich verlassen steht eine Liege mitten zwischen Unmengen an Werkzeug und Baumaterial. Man kann eben nicht alles haben. Hauptsache, sie macht einen guten Job.

Zwei Tage später stelle ich mich bei der Orthopädin vor. Schicke Praxis mit großflächigen Graffitis zum Thema Berlin und viel farbenfrohe Kunst an den Wänden; ziemlich untypisch für Arztpraxen. Dafür gab es dann auch schon viel öffentliches Aufsehen.

Die Ärztin schaut auf meine Wunde: Sehr schön. Alles trocken. Die OP-Bilder sehen auch gut aus. Belasten Sie das Bein, wie von der Klinik angegeben, in den nächsten Tagen noch mit 20 kg. Nach der ersten Röntgenkontrolle in vier Wochen beginnen Sie mit der gezielten Steigerung. Sie stellt noch eine Beinverkürzung um 1 cm fest und verschreibt mir einen Keil. Anschließend vereinbaren wir den Termin für das Klammern ziehen.

Keine Atempause
Gesundheit wird gemacht.
Es geht voran!

In Anlehnung an Fehlfarben: Es geht voran.

Klammertechnik

Die Klammertechnik ist ein treffendes Beispiel für Optimierung. Statt langwierig mit Nadel und Faden zu hantieren, tackert der Chirurg in Windeseile die Wunde zu. Das Entfernen geht später genauso schnell mit einem sog. Klammerentferner, der wie eine kleine Schere mir speziellem Kopf aussieht. Zugleich haben die Klammern auch in medizinischer und ästhetischer Hinsicht Vorteile: bessere Druckverteilung des Gewebes und geringere Narbenbildung.

12.05. Erste Röntgenkontrolle

Vier Wochen später die erste Röntgenkontrolle. Ich bitte den Arzt um eine Einschätzung.

Das sieht alles ganz unauffällig aus.
Aber finden Sie nicht auch, dass die eine Schraube sehr weit raussteht?
Nein, das ist eine dynamische Schraube. Während des Heilungsprozesses bildet sich neue Knochenmasse, und der Knochen zieht sich zusammen. Wäre die Schraube starr, würde es zu einem möglichen Zerreißen kommen.
Aber muss die Schraube dann so weit rausstehen?
Das ist alles noch im Toleranzbereich.
Wo denn im Toleranzbereich? Ich bilde mit meinen Händen einen imaginären Bereich und bitte den Arzt mir zu sagen, wo er denn in diesem Toleranzbereich die Schraube ansiedelt.
Den Gefallen tut er mir nicht.
Ich ziehe von dannen.

Therapeutin Jennifer sieht die Aufnahme und schüttelt den Kopf. Aus meiner Sicht steht die Schraube zu weit raus und drückt in die Weichteile. Kein Wunder, dass Du Schmerzen hast. Aber ich bin keine Ärztin.

Ich frage die Orthopädin. Nein, das ist voll und ganz in Ordnung. Sie wiederholt in etwa die Aussagen des Röntgenarztes und spricht von dynamischer Schraube, Antirotationsschraube etc. Schließen sich Dynamik und Antirotation nicht aus? Ich habe keine Ahnung.

Ab jetzt steigern Sie die Belastung kontinuierlich. In ca. sechs bis maximal acht Wochen sollen Sie wieder unter Volllast und ohne Gehstützen laufen können.

Those who may reach for the stars
Others will end behind bars
What the future has in store
No one ever knows before
Though time may help you forget
All that has happened before

Nina Simone: Tomorrow is my turn. Beeindruckende Übersetzung des Originals von Charles Aznavour: L’amour c’est comme un jour

Und so richte ich mein Trainingsprogramm und Jennifer ihre Physiobehandlung in den kommenden Wochen aus.

Erneute Zwischenstation bei der Orthopädin. „Stellen Sie sich für zehn Sekunden auf Ihr gesundes Bein.“ Kein Problem. „Und jetzt auf das Operierte.“ Das klappt nur mit voller Konzentration, ziemlich wackelig und schmerzhaft. „Das ist noch nicht OK. Hier müssen Sie noch kräftig üben. Und legen Sie immer den Keil in ihren Schuh.“

Doch statt Entspannung und Schmerzfreiheit quäle ich mich von Tag zu Tag gestresster durch die Gegend. An Schlaf ist kaum noch zu denken. Ich tigere nachts durch die Wohnung, trete im Laufe des Tages X-mal mit dem linken Bein auf die Waage; doch ich komme nicht an die Vollbelastung heran. Der Schmerz stoppt mich vorher.

Evil times are coming, we are in for darker nights

Abba: On and on

23.06. Zweite Röntgenkontrolle

Wieder sind etliche Wochen vergangen. Nächste Röntgenkontrolle. Der Arzt überreicht mir die Bilder in einem Umschlag und will gehen. „Halt, ich möchte Ihre Einschätzung hören!“ rufe ich, hole die Bilder aus dem Umschlag und lege sie auf den Tisch. Sie sehen exakt so aus, wie die ersten Kontrollbilder. Da auf dem Ausdruck kein Datum zu erkennen ist, frage ich, ob das die aktuellen Bilder vom Tage sind. „Selbstverständlich.“ Und dann:

Ja, ja, es kann schon sein, dass die Schraube etwas weit heraussteht und in das Gewebe drückt. Sprechen Sie am besten dazu mit Ihrer Orthopädin.
Dann war das doch vor fünf Wochen auch schon so. Da haben Sie mir aber was ganz anderes gesagt.
Ich habe die anderen Aufnahmen jetzt nicht. Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin.

Ich ziehe die ersten Kontrollbilder aus meinem Rucksack und lege sie zu den anderen. Ich erkenne keinen Unterschied. Auch der Arzt offensichtlich nicht. Jetzt heißt es: „Wir machen Röntgenaufnahmen; die Auswertung machen die Fachärzte.“ Ich packe die Bilder ein und mache mich auf den Weg zur Orthopädin.

Zum ersten Mal ist sie irritiert. Nicht wegen der Röntgenbilder, nicht wegen der Aussage des Röntgenarztes, nicht wegen meiner schon wiederholt geäußerten Vermutung zur Schraube, nicht wegen Jennifers Befürchtung – nein, es sind meine Dauerschmerzen, die sie beunruhigen.

Wenige Tage später ruft mich die Orthopädin an. Ich habe mich mit meiner Kollegin beraten. Die hat mehr Erfahrung in der Unfallchirurgie. Es gibt dort einen kleinen Spalt am Oberschenkelhals. Der Knochen heilt nicht durch. Wir schlagen vor, dass Sie sich in der XYZ-Klinik vorstellen. Die sollen sich das Ganze ansehen. Wir haben schon viele Patienten dorthin überwiesen. Die machen gute Arbeit.
Konnten Sie diese Schwachstelle nicht bereits auf den ersten Kontrollaufnahmen erkennen?
Sie stammelt ein wenig herum und rät mir, schnell einen Termin in der Klinik zu machen.

Die entsprechende Verordnung lässt sie mir umgehend zukommen. Ihre Diagnose: Pseudoarthrose. Erstaunlich, spricht man von Pseudoarthrose doch erst, „wenn es 6 Monate nach einer Fraktur … nicht zu einer vollständigen knöchernen Konsolidierung der Knochensegmente gekommen ist“ Pseudoarthrose – DocCheck Flexikon. Jetzt sind aber auf den Tag genau gerade einmal drei Monate vergangen. Merkwürdig.

Howlin‘ Wolf: I asked for water (she gave me gasoline)

19.07. Dr. R.: Neuer Orthopäde – neues Glück

Statt der Klinikempfehlung der Orthopädin zu folgen, höre ich lieber auf Nachbarin Sylvia, die mir einen Spezialisten für Hüfte und Oberschenkel ans Herz legt. Dr. R. habe sie und einige Bekannte ausgezeichnet operiert. Ich mache mich auf den Weg.

Dr. R. schaut sich die Kontrollbilder an.
Das ist Mist. Zeigen Sie mir doch noch die Aufnahmen aus der Klinik. Er nickt und bittet mich an seine Seite.
Hier sehen Sie die Klinikbilder direkt nach der OP. Die sind in Ordnung. Und hier am zweiten Monitor die Kontrollbilder aus der Klinik wenige Tage nach der OP. Da sehen Sie schon die Abweichung.
Selbst ich erkenne, dass die Kontrollbilder schon eine Veränderung gegenüber den ersten Aufnahmen unmittelbar nach der OP zeigen.

In seinem Bericht an die Krankenversicherung schreibt Dr. R:

… kam es zu einem Abrutschen und Abkippen der Hüftkopfkalotte mit Auswandern der Antirotationsschraube und sich entwickelnder Beinlängendifferenz links…

Die Verkürzung beziffert er auf mindestens 2,5 bis 3,5 cm. Er sieht nur eine Möglichkeit:

Implantate raus und neue Hüfte rein.

Ich sehe rot. „Diese Idioten! Was haben die da monatelang mit mir gemacht. Vier verplemperte Monate. Und jetzt wieder alles von vorne.“ Von wegen Have mercy on the Criminal (Elton John). Dr. R. bleibt ganz ruhig. „Ich kümmere mich um die OP. Ich habe erst vor wenigen Tagen etwas Ähnliches auf dem Tisch gehabt. Nach der OP sind Sie in wenigen Tagen schmerzfrei. Sie können das Bein sofort voll belasten. Die Stützen geben Ihnen außerhalb der Wohnung für einige Wochen Sicherheit. Und nach drei Monaten ist die Prothese voll eingewachsen, und Sie sind wieder fit.“

Krankenversicherung

Anruf bei meiner Krankenversicherung.
Ach wissen Sie, bei Implantaten und Prothesen kommt es immer wieder zu Veränderungen, die eine zweite Operation erforderlich machen. Das ist gar nicht ungewöhnlich.
Hallo, das mag ja sein; aber das war schon vor Monaten klar. Die Klinik hätte das schon erkennen müssen. Die haben sich die zweiten Bilder wohl gar nicht mehr angesehen. Anschließend hat die Orthopädin die Situation völlig falsch eingeschätzt. Das muss doch Konsequenzen haben.
Nein, das lohnt sich nicht. Das werden jahrelange Streitereien für nichts und wieder nichts.
Aber es geht um einige tausend Euro und darum, dass auch Ärzte, die an ihre Grenzen kommen, rechtzeitig an Kollegen überweisen.
Das ist nicht relevant.

Wie war das noch mal mit den hohen Kosten im Gesundheitssystem?
It’s only Money – Groucho Marx / Frank Sinatra

03. – 12.08. Auf in die Klinik

Am 03.08. mache ich mich also auf den Weg in die Klinik. Nach der kurzen Anmeldeprozedur werde ich in die sechste Etage geschickt. „Die Schwestern werden Sie auf Ihr Zimmer bringen.“

Erste Überraschung: Bis gestern war die Orthopädie in D; seit heute ist sie gegenüber in C. Ziemliches Chaos; Ecken voller Rollstühle, Gehhilfen, etc. Menschen flitzen hin und her. Das sieht nicht gut aus.

Zweite Überraschung:

Es tut mir leid, aber wir haben kein Bett für Sie. Setzen Sie sich doch bitte hier in den Wartebereich.

Der lauschige Wartebereich ist eine Nische zwischen Küche und Gang, vollgestopft mit einigen kackbraunen Sesseln und kleinen Tischen. Zwei Besucher haben sich dort bereits niedergelsassen, ihre Taschen in die Ecke gequetscht und warten. Außer einem „Hallo“ bleibt es still. Ich hole meine Jazzthetik aus dem Rucksack. Kurz darauf steht eine Dame vor uns. „Es ist Mittagszeit. Was möchten Sie essen?“ Ich schaue auf die Uhr: 11:30. Es ist wie in der Seniorenresidenz, dieser Verniedlichung der Altenverwahranstalt. Meine Leidensgenossen schauen ratlos. „Ich hätte gerne ein knuspriges Grillhähnchen mit Salat.“ Ich sehe die Dame erwartungsvoll an. „Sie können Nudeln mit Tomatensauce und Gulasch oder ein Jägerschnitzel bekommen.“ Wir entscheiden uns unisono für das Jägerschnitzel, das nur wenige Sekunden später vor uns steht – papierdünn mit viel Panade und auch mit Tomatensauce vollgematscht.

Hoffentlich wird das hier kein Desaster; nicht, dass sich Dr. R. und sein Team letztlich doch als blutige Schlachter herausstellen.

Was wollen Sie?
Ich will derjenige sein, der ihn tötet.…
Sie? Aber das verstehe ich nicht. Warum?
Es hat noch nie jemand meinen Glauben so angezweifelt wie Sie? … Und ich will, dass auch Sie bei der Hinrichtung dabei sind, sodass Sie nie wieder Zweifel an mir haben werden.

Omar Shahid Hamid: Der Gefangene

Eine Stunde später bin ich endlich in meinem Zimmer, ein ziemlich abgeranzter Notraum für alle Fälle. Ein Blick in die Kloschüssel, und ich kriege Darmverschluss. Gesprungenes Porzellan mit tiefen braunen Schlieren, die niemand mehr wegputzen kann. Der Klodeckel ist nur noch an einer Ecke befestigt.

Später landet Frank aus Brandenburg bei mir. Er zeigt mir seinen Rücken. Zwei gewaltig lange Narben ziehen links und rechts der Wirbelsäule ihre Bahn. „Morgen wollen sie den dritten Versuch starten. Meine Bandscheiben reiben direkt aufeinander und peinigen mich fortwährend. Die wollen die jetzt mit Metall verbinden und versteifen.“ Ich frage Frank, ob er die ersten Operationen auch hier hat machen lassen. „Nö, das war noch in Brandenburg. Da war alles kleiner und besser. Hier sollte ich vorgestern operiert werden. Ich lag auf meinem Zimmer. Plötzlich steht der Grieche vor mir. Der hatte mich zuvor untersucht und die OP angeordnet. ‚Sie können wieder nach Hause fahren. Heute und morgen werden Sie nicht operiert.‘ Da bin ich richtig sauer geworden und hab den angebrüllt. Nutzte aber nichts. Mein Bett würde dringend benötigt. Sie würden sich melden. Dies ist auf jeden Fall eine Scheiß Klinik.

Oh weh, ich bin doch nicht schon wieder falsch abgebogen. Und ich höre Odettas traurige Stimme: Sometimes I feel like a motherless child – A long way from home.

Am späten Nachmittag erscheint die Anästhesistin und gibt mir einen Stapel Papier zu lesen und zu unterschreiben. „Ich komme nachher und bespreche alles mit Ihnen.“ Und schon ist sie verschwunden. Bereits auf der ersten Seite stolpere ich: die wollen meine völlig gesunde rechte Hüfte operieren. Hallo, geht’s noch. Ich korrigiere Angabe für Angabe von rechts auf links. „Oh, gut, dass Sie das korrigiert haben. Ich hatte doch eben noch auf die Röntgenbilder gesehen. Da war völlig klar, dass es die linke Hüfte ist. Wie mir dann die Verwechselung passieren konnte, weiß ich nicht. Aber im OP wäre das aufgefallen, da Sie ja auf der rechten Seite keinen Schnitt von der Oberschenkel OP haben.“

Ganz schnell malt sie ein riesiges Kreuz auf mein linkes Bein. „So, jetzt kann da nichts mehr schief gehen. Sie sind übrigens morgen früh der Erste im OP.“ „Na, das ist doch mal eine gute Nachricht.“

Die Entscheidung für die Narkose ist absolut klar: bloß keine Vollnarkose. Ich wähle die Spinalanästhesie. So kann ich der OP schon mit allen Sinnen lauschen. Nicht, dass die doch noch am rechten Bein rumschnippeln. Dann bitte ich um einen Monitor, damit ich die OP auch live am Schirm verfolgen kann. Es wird ein zähes Ringen; doch ich gebe nicht auf. Frank wendet sich mit Grausen. „Was bist Du denn für einer? Warum willst Du Dir das antun?“ Für meine Neugier und mein Interesse an der Verfolgung der Abläufe und der Zusammenarbeit im OP hat er kein Verständnis.

Meine OP verläuft absolut professionell. Ich liege auf dem OP-Tisch. Den Kopfhörer mit Musik lehne ich ab. Ein Tuch trennt mich vom Chirurgen, lässt mir aber einen guten Blick auf den langen Tisch mit den Instrumenten und den Assistenten. Rechts von mir sehe ich auf einem Monitor das Geschehen. Nachdem sämtliche Vorbereitungen abgeschlossen sind, erscheint – fast wie bei einem Rockstar – Dr. R. Einige kurze Bemerkungen, und dann geht es los, mit Messer, Säge, Bohrer, Hammer. Vor allem das Herausschlagen des Hüftkopfes fegt meinen Körper gefühlt fast vom Tisch; doch hinter mir stehen aufmerksame Helfer, die mich beruhigen. „Wir fangen Sie schon auf, bevor Sie vom Tisch fliegen.“ Dr. R. benötigt Kraft und Präzision zugleich. Seine Befehle kommen knapp und präzise, z. B. „acht rechts“, und schon dreht am anderen Tischende jemand eine Kurbel acht Mal und zieht mein Bein in die Länge. Später fordert er die Nummer eins, eine Art Stift, der in mir versenkt wird. Dann die Nr. 3 und anschließend die 7.

Er stutzt. Was habt ihr mir gegeben?
Die 5.
Was wollte ich haben?
Die 5?
Nein, die 7. Das ist Mist. Das geht nicht. Hört gefälligst zu, wenn ich was sage. Er redet sich hochgradig erzürnt immer mehr in Rage.
Ruhig Brauner, rufe ich ihm zu. Volle Konzentration. Jetzt keine Streiterei.
Dr. R. ist kurz irritiert, dann: Verflixt noch mal, warum habt Ihr den Kerl nicht ins Reich der Träume geschickt? Muss der auch noch dazwischen quatschen?
Alle lachen.

Und weiter geht’s. Nachdem er die Klammern gesetzt hat, verschwindet Dr. R. Die Aufräumarbeiten machen seine Assistenten. Ich sichere mir noch meine Trophäen, die Implantate und den kaputten Hüftkopf, und schon werde ich aus dem OP geschoben, während der nächste Tisch bereits wieder präpariert wird. Arbeit wie am Fließband, von Montag bis Freitag täglich von 06:30 bis ca. 15:00 in zwölf OP Sälen an allen möglichen und unmöglichen Körperstellen, vom Auge bis zum Zeh.

Kurz bevor ich ins Zimmer geschoben werde, kreuzt Frank meinen Weg. Er wird zum OP gebracht. Wir machen einen High Five. Ich wünsche ihm gutes Gelingen, und schon ist er verschwunden.

Ich bin munter und schaue mir meine Trophäen an, die blutigen Implantate in einer Box, der alte Hüftkopf in einer anderen. An ihm kleben noch zahlreiche kleine Fleischstückchen und Knochenreste. Ich muss die Trophäen wohl gründlich auskochen, sobald ich wieder daheim bin. Ob sich daraus aber ein Gericht fabrizieren lässt? Ich schaue mal bei Colette Prommer / Michael Langoth nach: Gehört Gekocht. Entspannt genießen mit dem Ö1 Kochbuch.

Letzter Akt es Tages: ich muss innerhalb der nächsten Stunden pinkeln, sonst ….. Genau, die Geschichte kenne ich ja schon aus der ersten OP. Doch diesmal ist Ronnie mein Pfleger, massig, großflächig tätowiert, mit viel Schalk im Blick.

Pass auf, ich bin bis 21:30 hier. Wenn Du bis 21:00 nicht gepinkelt hast, lege ich Dir einen Katheter.
Aber nur, wenn Du mich vorher narkotisierst.
Quatsch, ich war zehn Jahre in der Urologie. Ich habe unzählige Katheter gelegt. Du kriegst ein wenig Schmiermittel auf Deinen Schniedel, und dann knall ich Dir den Katheter schneller rein, als Du Aua sagen kannst.

Ich schnappe mir Giorgio Faletti: Ich töte und lasse mich von bösen Phantasien treiben. Doch manchmal sind Drohungen gar nicht so übel. Kaum 30 Minuten nach Ronnie’s brutaler Drohung verspüre ich den nötigen Druck. Et voila, das Problem ist gelöst.

Spät am Abend kommt Frank zurück. Er ist zwar munter, sieht aber ziemlich mitgenommen aus. Er grummelt vor sich hin. „Michael, stell Dir vor, die haben mich nicht KO gekriegt. Da sagt die blöde Narkoseassistentin doch glatt, ich solle an etwas Schönes denken. Dann würde das mit der Narkose auch klappen. Wie soll ich an schöne Dinge denken, wenn die mich gleich fünf Stunden lang operieren wollen. Also frage ich sie, woran ich denken soll. Da sagt die, ich soll an meine Frau denken. Die ist aber vor drei Jahren elendig zugrunde gegangen. Ich schlage ihr vor, das Narkosemittel zu erhöhen. Sie schüttelt den Kopf. Schließlich haben Sie mich intubiert. Das Ergebnis kannst Du hier sehen.“ Frank reißt seinen Mund auf. Ein Schneidezahn fehlt. „Ja, da staunst Du; den haben die rausgeschlagen. Ich hatte vergessen, dem Anästhesisten zu sagen, dass meine Zähne nur eingeklebt sind, weil ich doch so viel Schiss vor dem Zahnarzt habe.“ Und dann zieht er seinen Fuß unter der Decke weg. Komplett bandagiert. „Den hat eine Lernschwester zermatscht. Die hat ein Bett geschoben und gleichzeitig eins gezogen, dabei aber die Kontrolle über die Lenkung verloren und mir meine Zehen voll eingequetscht. Drei sind schwer lädiert, womöglich angebrochen oder sogar durch. Und ob der Grieche meinen Rücken hingekriegt hat, weiß der Teufel. Ich trau dem nicht.“ Den Rest der Nacht hängt Frank morbiden Gedanken nach.

Living like a dying man, must be crazy
Must be out your head
You better wake up while you’re still living
Or one of these mornings, gonna wake up dead

Gov’t Mule: Wake up dead

Am folgenden Morgen wird Frank gegen seinen Willen verlegt. „Nein, Michael und ich sind ein super Team. Ihr dürft uns nicht auseinanderreißen.“ Doch alles Klagen ist vergebens. Wir wünschen uns alles Gute, und dann ist Frank verschwunden. Ich warte unterdessen darauf, dass auf der Wahlleistungsetage endlich ein Bett für mich frei wird.

Eine Schwester erscheint. Sie kriegen gleich Verstärkung, zwei Frauen als Neuzugang.
Frauen? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?! Ich liege hier nackt herum.
Wir haben nichts frei, und spätestens morgen werden Sie verlegt. Eine Nacht können Sie sich bestimmt arrangieren. Die Damen ziehen sich im Bad um und Sie Ihr OP-Hemd wieder an.
Na, das OP-Hemd ist ja eine tolle Schamwand; da kann ich auch gleich weiter nackt hier liegen. Und was machen Sie, wenn ich die Damen morgen wegen sexualisierter Gewalt gegen mich verklage? Ich kann mich doch gar nicht wehren.
Die Schwester schaut konsterniert; dann lacht sie bis ihr die Tränen rollen. Den Witz muss ich den Kolleginnen erzählen. Opa Michael wird von zwei achtzigjährigen Omas zum Sex gezwungen. Herrlich.

Lachend lässt sie mich allein mit meinem Schicksal. Ich lese schnell noch ein paar Seiten bei César Aira: Wie ich Nonne wurde.

Gottseidank werde ich noch verlegt, bevor dieses peinliche Treffen stattfindet. Mein Einzelzimmer hat stattliche Größe, Garderobenschränke für ein Jahr, ein rotes Sofa, ein eigener Kühlschrank und ein herrlicher Blick über die Stadt. Und dann auch noch eine eigene Getränkekarte. Einige Beispiele: Champagner 65 EUR, Sekt 12, Brunello 48,50, Riesling 19,50. Alles Flaschenpreise. Bier für 3 EUR der halbe Liter steht täglich auf der Abendbrotkarte. Mengenbegrenzungen gibt es bei keinem Getränk. Ich weiß nicht, wie Saufen und Gesund werden zusammenpassen; aber die Schwestern versichern mir, dass sämtliche Alkoholika gut verkauft werden. Besonders beliebt sei Bier und die kleine Flasche Champagner. Vielleicht hat Willy Millowitsch ja hier seine Schlager „Heute sind wir blau“ und „Schnaps, das war sein letztes Wort“ vor sich hin geträllert?

Ich bin zufrieden eingeschlafen. Hier gibt es kein Wachrütteln um 06:00. Frühestens um 07:30 taucht der erste Mensch auf. Paradiesische Zustände. Doch dann … Gegen Mitternacht Höllenlärm. Aufgemotzte Autos donnern die Straße entlang. Schlagergedudel der schlimmsten Sorte kracht in mein Hirn. Mitgröhlende Idioten. Ich rufe die Nachtschwester.

Ja, das sind die Jugendlichen hier. Die machen das jeden Abend oft bis in den frühen Morgen.
Das kann doch nicht wahr sein. Hier ist eine Klinik, und die toben sich vor unseren Fenstern aus. Wir rufen das Ordnungsamt oder die Polizei.
Vergessen Sie’s. Das haben andere Patienten auch schon versucht. Wir haben alles unternommen, um das abzustellen. Wir haben mit der Polizeidirektion gesprochen, Presseartikel wurden veröffentlich, Leserbriefe geschrieben. Alles ohne Wirkung. Mit dem Lärm müssen wir leider alle leben.

Ich war auch mal jung und nicht gerade der Bravste unter der Sonne; aber vor unserem Krankenhaus hätte das niemand aus unserer Clique gemacht, auch wenn wir noch so gerne Born to be wild (Steppenwolf) brüllten.

Dr. R. kommt einmal täglich, sieht sich die Wunden an, spricht mit mir über Physio, notwendige Vorsicht im Alltag etc. und legt den Tag der Entlassung fest. Visite am folgenden Vormittag durch eine langjährige ärztliche Begleiterin des Chefs. „Alles ist erstklassig verlaufen. Die Kontrollaufnahmen sind fehlerfrei, Ihr Blutbild ist gut. Sie können morgen nach Hause.“ „Hm, der Chef hat was anderes gesagt.“ „Ich spreche mit ihm. Morgen geht in Ordnung.“ Am Nachmittag kommt Dr. R. zu mir. Ich informiere ihn über den geänderten Entlassungstermin. „Wer hat das denn gesagt?“ „Ihre Kollegin X.“ Er schüttelt den Kopf, greift zum Telefon und wählt. „Averkamp kommt am Freitag raus und nicht am Mittwoch.“ Er hört nur kurz der Antwort zu. „Ich sage Freitag. Und damit basta.“ Er legt auf. „Und Sie lassen sich nicht von jemandem was anderes einreden, wenn ich den Termin festlege. Ich bin der Chef, und wenn Sie was anderes wollen, dann sprechen Sie mit mir.“ Er klingt ein wenig wie Charles Bronson: Das Gesetz bin ich. Und dann entschwindet er mit einem zumindest leichten Grinsen im Gesicht. Erst zwei Tage später lässt sich seine Kollegin wieder bei mir blicken. „Das war ja was. Ich kenne den Chef jetzt seit vielen Jahren. Aber so bestimmt habe ich ihn ganz selten erlebt.“ „Vielleicht wollte er nur die Kasse aufbessern.“ „Nein, überhaupt nicht. Wir haben eine ellenlange Warteliste. Er macht sich tatsächlich Sorgen um Sie. Er will, dass es dieses Mal absolut gut ausgeht, obwohl er ja für das Oberschenkeldesaster nichts kann. Mich hat er jedenfalls ziemlich in den Senkel gestellt.“ Da hilft nur eins:

Schließ Aug und Ohr für eine Weil
Vor dem Getös der Zeit
Du heilst es nicht und hast kein Heil
Als wo dein Herz sich weiht

Friedrich Gundolf: Schließ Aug und Ohr für eine Weil

Inzwischen bin ich entlassen, habe faktisch keine oder nur noch geringe Schmerzen, laufe in der Wohnung ohne Stützen und hoffe, dass in drei Monaten die Prothese richtig gut eingewachsen ist. Dann steht meinen nächsten Wanderungen nichts mehr im Wege.

March down freedom highway
Marching each and every day
March down freedom highway
Marching each and every day

Made up my mind, that I won’t turn around
Made up my mind, that I won’t turn around

Rhiannon Giddens: Freedom Highway

Oder lockt da bereits der nächste Klinikaufenthalt?