Der Aufenthalt (Hermann Kant)
Freitag 01.04. bis Samstag 09.04.2022
Wenn die Zeit durch die Lupe rinnt, sollte jede Verhinderung möglich sein. Doch der Aufprall ist asphalthart. Schmerzen beißen sich in Orkaneile durch den Körper und geben ihre Befehle ans Hirn: Schwindel und Brechreiz.
01.04.2022: Ich liege mitten auf einer Kreuzung im Osten der Republik.
Von nun an ging’s bergab (Hildegard Knef)
Die Rettungssanitäter schütteln den Kopf. Verfrachtung auf die Trage. Zusammengebissene Zähne.
Wenige Minuten später Ankunft in der Notfallaufnahme. Wechsel auf ein Krankenhausbett. Zusammengebissene Zähne.
Ein Blick auf meine Fußstellung. Beinbruch.
Zwei Stunden Wartezeit. Schmerzmittel? Fehlanzeige. Vielleicht wird ja noch operiert; dann sollte man vorher nicht bereits Schmerzmittel intus haben.
So schlimm wird es wohl nicht sein, oder? Sie sind doch kein Jammerlappen. Bleiben Sie einfach ruhig liegen, dann tut es auch nicht weh.
Abgabe der Krankenkassenkarte. „Achtung, die Anschrift auf der Karte stimmt nicht mehr.“ Ich nenne meine aktuelle Anschrift.
Sie kommen aus Berlin? Wieso sind Sie dann hier?
Weil ich mich hier auf die Nase gelegt habe.
Ach so.
Wo bleiben Schmerzmittel?
Auf meiner Seite drei dünnwandige Kabinen, gegenüber zwei und der Tisch für den Formalkram. Links von mir eine betagte Dame.
Hilfe, Hilfe, ich habe mir in die Hose gemacht.
Können Sie sich nicht früher melden! Schauen Sie sich doch diese Sauerei an. Und wie das stinkt.
Man hatte der Frau ein Abführmittel verabreicht, ohne ihr einen Schieber (= Bettpfanne) unterzuschieben. Wie blöd kann man eigentlich sein!
Wenige Tage später werde ich auf meiner Station ähnliches erleben. Eine ältere Frau steht schräg gegenüber von meinem Zimmer und jammert, dass sie sich in die Hose gemacht habe. Reaktion:
Ich habe Ihnen doch eben erst eine frische Hose angezogen und Ihnen gesagt, dass Sie sich melden, wenn Sie müssen. Wozu haben Sie denn eine Klingel. Jetzt verschwinden Sie auf’s Klo und warten, bis ich Zeit für Sie habe.
Ich habe vor zwanzig Minuten geklingelt; aber es ist niemand gekommen. Wie lange soll ich denn warten?
Keine Antwort. Die Frau steht völlig verzweifelt auf dem Flur, frustriert, verängstigt und verärgert zugleich. Dann tritt sie den Rückzug an.
Die Dame rechts von mir hat einen Blasentumor. Der Arzt erklärt ihr, die akuten Probleme seien beseitigt. Sie könne nach Hause, solle aber kommende Woche für eine weitere Behandlung wiederkommen. „Nein, nein, Sie dürfen mich nicht entlassen. Ich weiß, dass es dann wieder passiert. Ich muss hierbleiben.“ Alles Zureden, jeder Hinweis auf „Problem behoben“ und Überbelegung geht im Gejammer der Dame unter. Griff zum Telefon: „Habt Ihr noch ein Bett für XYZ. Ja, das ist eine Kollegin. Danke.“ Und schon darf sie bleiben.
Gegenüber wird ein neunjähriges Mädchen eingeliefert. Kopfüber vom Pferd in den Sand gestürzt. Eltern haben keinen Zutritt. Armes Kind. Der Rettungssanitäter erbarmt sich und bleibt bei ihr, redet ihr beruhigend zu, bis auch er nach wenigen Minuten zum nächsten Einsatz gerufen wird. Das Mädchen weint einsam und verlassen.
Ich werde zum Röntgen abgeholt. Wechsel auf den Röntgentisch. Zusammengebissene Zähne, auch während der verschieden notwendigen Beinhaltungen während des Vorgangs. Und auch beim erneuten Tisch zu Bett Wechsel. Aber was ist das alles im Vergleich zu
Marina Abramović: Durch Mauern gehen
Wieder lande ich in meiner Notaufnahmekabine. Weitere zwei Stunden ohne Schmerzmittel. Ich soll ja noch operiert werden. Dann geht es zur Station C4, was auch immer das sein mag.
Erneutes Abfragen meiner Daten.
Die wurden doch schon aufgenommen.
Aber noch nicht auf unserer Station.
Haben Sie denn keine zentrale Datenverwaltung?
Nö, Datenschutz.
Und wenn Sie die Patienten vorab um Erlaubnis bitten? Unterschrift genügt.
Da bin ich überfragt. Das geht mich auch nichts an.
Au weia. Wieder gebe ich meine neue Anschrift an.
Dreibettzimmer. Das mittlere Bett wegen Coronaregeln unbesetzt. Am Fenster Klaus, LKW-Fahrer, gute 50, 104 kg, Diabetiker, Starkraucher, Herzinfarkt vor einem Jahr. Jetzt ein Fuß dick bandagiert. Ärzte tauchen auf. „Ach, ein Neuer. Zu Ihnen kommen wir gleich.“ Dann geht’s zu Klaus. Verband ab. Druck auf verschiedene Fußstellen. „Merken Sie das?“ „Ja“ „Tut es weh?“ „Nein“. „Dann schneiden wir mal einige Abszesse auf.“ Und schon beginnt die Schnippelei. Eine Mischung aus Eiter, Blut, Fäulnis und sonstigem Dreck würzt die Luft.
Von wegen „Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der 1. Reihe“.
Hier habe ich einen Logenplatz allererster Güte.
Dann kommen sie zu mir.
Oha. Oberschenkelhalsbruch. Der muss operiert werden. Wollen Sie heute Nacht noch dran?
Ja, je schneller, desto besser.
Das ist die richtige Einstellung; denn bei einem Oberschenkelhalsbruch ist Eile gefordert. Da muss die OP spätestens innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Sonst treten oft Komplikationen auf. Wann hatten Sie denn Ihren Unfall?
Um 17:00.
Dann sind wir ja diese Nacht noch auf der ganz sicheren Seite.
Erfolgt die OP mikroinvasiv?
Herzhaftes Lachen. Wir sind Chirurgen. Wir schneiden. Orthopäden arbeiten mikroinvasiv. Das gibt es bei uns nicht. Ich schicke Ihnen den Anästhesisten. Der bespricht alles mit Ihnen.
Der Anästhesist erklärt mir das Verfahren. Ich unterschreibe einige Zettel. Und dann warte ich Stunde um Stunde um Stunde auf die OP. Schmerzmittel? Gibt es nicht, weil …. Ja, ja, die OP. Wieder träume ich von Cocaine. Auch Hunger und Durst wühlen in meinen Eingeweiden. Eine Schwester wiederholt die Devise:
Erst unter’s Messer, dann an Muttis Brust.
Morgens um sechs schnauze ich den ersten Beschäftigten, der unser Zimmer betritt wütend an. „Wieso wurde ich nicht operiert? Was ist das denn für ein Saftladen. Wann bin ich denn dran?“
Er zuckt bedauernd mit den Achseln. „Ich bin nur der Pfleger. Ich kenne den Operationsplan nicht. Der liegt in der Chirurgie.“
„Dann rufen Sie da an, damit ich weiß, wie der Plan aussieht. Ich warte nicht mehr bis zum Sankt Nimmerleinstag.“
Kurz darauf erhalte ich die Info:
Wir versuchen, Sie heute noch zu operieren. Falls das nicht mehr klappt, sind Sie am Montag als Erster dran.
Ich springe mental aus dem Bett und gehe dem Überbringer der Nachricht an die Gurgel.
Sind die da alle bescheuert. Erst heißt es, maximal 24 Stunden Zeit für die OP und dann soll ich ggf. fast drei Tage unbehandelt hier liegen. Holen Sie mir den Zuständigen. Und sagen Sie ihm, dass ich vor dem Mittagessen abreise, sofern ich bis dahin nicht operiert wurde.
Kurz darauf erscheint wieder die Ärztetruppe und wiederholt bei Klaus die Prozedur vom Vorabend. Diesmal wird ordentlich Fleisch weggeschnitten.
Wir müssen da noch weitergehen. Da ist am Fuß bereits zu viel verdorben. Wir müssen hier ein Stück vom Knochen absägen und mindestens auch drei Zehen entfernen.
Klaus ist tiefenentspannt. Ja, machen Sie nur.
Ich liege wieder in der Loge.
Einer aus der Truppe bleibt bei mir.
„Ich bin der Anästhesist. Ich möchte mit Ihnen das Verfahren besprechen. Sie werden dann auch direkt operiert.“
„Das Verfahren hat Ihr Kollege doch schon gestern Nacht erklärt und sich die notwendigen Unterschriften von mir geholt. Seine OP-Zusage war dann aber nur Schall und Rauch.“
„Mag alles sein; doch jetzt bin ich im Dienst und muss das mit Ihnen abklären. Und dann werden Sie auch wirklich direkt operiert.“
Wir einigen uns auf eine Spinalanästhesie, also eine örtliche Betäubung. Wenige Minuten später werde ich zur OP gefahren. Wieder Bettwechsel. Zusammengebissene Zähne.
Auf dem OP-Tisch kommt es noch einmal zum Kampf mit den Schmerzen, als mein Oberkörper weit nach vorne gebogen wird, um die Narkosespritzen nahe am Rückenmark zu setzen. Anschließend hängen sie ein grünes Dach einige Zentimeter über meinen Kopf. Zusehen verboten. „Wir hatten das früher mal auf ausdrücklichen Wunsch zugelassen. Als aber ein Patient während der OP in die offene Wunde gekotzt hat, war es vorbei mit dem Fernsehprogramm.“ Mir wird ein Beruhigungsmittel oder alternativ auch ein Schlafmittel angeboten. Ich lehne ab, auch das Fixieren meines linken Armes. Den werde ich selber unter Kontrolle halten. Dann bestätigen die Anwesenden, welche OP an welchem Bein vorgenommen wird und dass alle notwendigen Implantate bereit liegen. Ich höre zu und bin beruhigt.
Während der OP lausche ich entspannt und neugierig den Klängen von Säge, Schrauber etc.
O mio babbino caro (Puccini) für Harfe und singende Säge (Simonetta Ginelli u Katharina Micada)
Die Gespräche der zahlreichen Menschen im Saal drehen sich um Fußball – Langeweile um die Spitzenposition in der ersten Liga, Spannung in der Champions Leage, den Ortsverein, den nur drei Punkte vom zweiten Tabellenplatz trennen – und die neue Ärztin in der Gynäkologie mit Körbchengröße C, die aber für den Kollegen, der schon speichelt, viel zu hübsch sei etc. etc.
Egal, die Jungs und Mädels verstehen ihr Handwerk, arbeiten schnell und sicher, setzen Platte und Schrauben, vernähen die Schnitte in den Faszien und klammern den etwa handlangen zentralen Schnitt.
Anschließend lande ich auf Station U1 und wundere mich, dass die nicht im Untergeschoss ist, sondern in der zweiten oder dritten Etage. Einzelzimmer. Eine Schwester kommt und nimmt meine Daten auf. Wieder korrigiere ich meine Adresse.
Dann stülpt sie mir die Urinflasche über meinen tauben Schniedel.
Ist nur zur Sicherheit. Solange Sie da noch kein Gefühl haben, kann es zum unbemerkten Wasserlassen kommen. Und die Schweinerei wollen wir doch nicht, oder?
Anschließend stellt sie mir ein Kästchen mit einer Einteilung für morgens, mittags, abends hin. Darin verschiedene schmerz- und entzündungshemmende Tabletten. Kurz darauf kommt ein junger Mann und schüttet die Tabletten in drei kleine Töpfchen, die er in einer Reihe hintereinander aufstellt.
Warum lassen Sie die Pillen nicht in dem Kästchen?, frage ich überrascht.
Das überfordert die Patienten.
Hä? Das Kästchen hat doch eine klare zeitliche Zuordnung. Jetzt sind es drei ungekennzeichnete Töpfe. Wieso soll das sicherer sein?
Das ist so angeordnet.
Ich wende mich mit Grausen.
Immer häufiger fragt jemand, ob ich inzwischen gepinkelt hätte.
„Nein, noch nicht. Aber kann ich jetzt endlich was zu essen und zu trinken bekommen? Ich habe seit gestern früh weder gegessen noch getrunken.“
„Nein, erst müssen Sie Wasser lassen. Dann gibt es was.“
Gegen Abend ist unten herum immer noch alles taub.
„Ja, das kann bei der Spinalanästhesie schon mal vorkommen. Da kann es zu Beeinträchtigungen der Blasenfunktion kommen. Wir müssen da jetzt aktiv werden.“
„Was heißt das?“
„Na ja, das wird Ihnen der Doktor sagen.“
„Nix da, Sie sagen mir das.“
„Wir legen dann einen Blasenkatheder und sorgen dafür, dass Sie Wasser lassen.“
Ich verweigere mich und rufe flehentlich:
Warte, warte nur ein Weilchen (Walter Kollo).
Schließlich klappt es, und ich kriege zur Belohnung ein Glas Wasser und einen Teller mit Brot, Wurst und Käse, obwohl die abendliche Essensausgabe längst abgeschlossen ist. Meinen Hinweis auf Käseunverträglichkeit hatten die Damen und Herren wohl vergessen.
Ich bin hundemüde und falle ins Koma. Gefühlt nach wenigen Minuten schrecke ich hoch. Direkt vor meinem Fenster setzt ein Rettungshubschrauber Fenster und Nachttisch in Schwingung. Ich recke den Hals und sehe in wenigen Metern Entfernung den Landeplatz. Das kann ja heiter werden. In der Tat wird es Nacht für Nacht heiter. Selbst nachts um zwei oder drei Uhr klingen laute Opern- und sonstige Melodien aus dem nahegelegenen Aufenthaltsraum der Beschäftigten. Man feiert, lacht, singt und hat offensichtlich viel Spaß. Nicht nur einmal werden nachts die im Nebenraum befindlichen zahlreichen Blechschieber vom Regal gefegt und erzeugen einen ganz eigenen Höllenklang.
Die Krupps: Stahlwerkssymphonie / Peter Brötzmann: Machine Gun
Irgendwann in tiefer Nacht bringt jemand die Tablettenration für den anstehenden Tag ins Zimmer, meist leise. Und dennoch: Mir fehlt Eric Clapton für den tiefen Schlaf. Kaum liege ich dann irgendwann erschöpft im Koma, fliegt die Tür auf: „Waschen, Bettwäsche wechseln, Vorbereitung für die Visite.“ Ich will nicht. Es nutzt nix.
Wo ein Wille ist, ist nicht immer ein Weg.
Es ist gerade einmal sechs Uhr.
Am Nachmittag erscheint eine Physiotherapeutin und passt die Krücken auf meine Größe an.
Das sind Unterarmstützen und keine Krücken. Sie haben links und rechts eine Stütze. Die Krücke sind Sie in der Mitte.
Ich kann mich vor Lachen kaum halten. Ich mache erste Gehversuche, anfangs noch etwas holprig, dann aber schon ganz gut.
„Drehen Sie immer wieder einige Runden in Ihrem Zimmer und mobilisieren Sie das Bein. Auf den Flur sollten Sie heute aber noch nicht gehen. Ab morgen wird sich eine Kollegin um Sie kümmern.“
Ich folge ihrem Rat und drehe meine Runden. Auf meiner Abendrunde rutscht die Krücke am kaputten Bein in sich zusammen. Ich kann mich nur mit Not ans Bettgestell retten, kriege aber einen heftigen Schlag ins Kontor. Ich brülle nach dem Pfleger. Es kommt ein Student mit einem weiteren im Schlepptau.
Ach, was ist denn passiert? Die Stütze ist ja viel kürzer.
Vergessen Sie die Scheißstütze. Ich bin fast wieder auf die Nase geflogen. Rufen Sie einen Arzt, der sich das ansieht.
Ein Pfleger kommt, ein ganz cooler. Ich hole Ihnen eine neue Stütze. Sie bleiben liegen. Und wenn Sie morgen noch Schmerzen haben, dann sagen Sie das bei der Visite. Ich gebe Ihnen erst einmal stärkere Schmerzmittel. Dann schlafen Sie auch gut.
Ich insistiere, verweigere das Schmerzmittel und erwarte nicht mehr, dass noch ein Arzt kommt.
Thomas Bernhard: Der Ignorant und der Wahnsinnige
Am nächsten Tag besuchen mich zwei Jugendliche, sie ist 15, er 14. Schülerpraktikum. Der Junge misst Blutdruck (67 zu 120) und Puls (48).
„Das ist nicht gut.“ Der Junge sieht kopfschüttelnd auf die Messergebnisse.
„Was ist denn nicht gut?“
„Der Blutdruck ist zu niedrig, und der Puls ist viel zu niedrig.“
„Was wären denn gute Ergebnisse?“
„Der Blutdruck sollte bei Erwachsenen mindestens 100 zu 150 sein und der Puls mindestens 80.“
„Wer hat Euch das denn erzählt?“ Schulterzucken. Ich empfehle einen Selbsttest mit anschließender Auswertung anhand einer Blutdrucktabelle im Internet und einen Blick auf die Normalwerte bei verschiedenen Altersstufen. Die Kids sind erstaunt, dass der „Opa“ nicht nur weiß, dass es Internet gibt, sondern auch, wo sie eine Tabelle nach Alter und Geschlecht finden können.
Am folgenden Tag kommen sie wieder. Diesmal für den Covid-Test. Das Mädchen fragt mich, ob ich den Nasen- oder den Rachenabstrich möchte.
„Macht Ihr denn nicht Nase und Rachen in einem Durchgang?“
„Nein, hier wird nur ein Abstrich gemacht.“ Ich entscheide mich für Nase. Das Mädchen, gluckst. Sie macht Rachen. Der Junge packt ein Teststäbchen.
„Ich gehe auch nur ganz vorne in die Nase. Dann ist es nicht so unangenehm.“
„Und kriegst Du dann auch ein verwertbares Testergebnis?“
„Ja, klar. Ich habe bislang immer ein Ergebnis gekriegt.“ Der Junge steckt das Stäbchen kaum mehr als einen Zentimeter in mein linkes Nasenloch, dreht es einmal herum und wechselt dann zum anderen. Als er zu seinem Test Kit gehen will, halten wir ihn auf.
„Zeig mir mal, wie tief Du in die Nase gegangen bist“, fragt das Mädchen.
Der Junge versucht zu schummeln, sieht mich dabei verstohlen an. Ich schüttele den Kopf.
„Das kann doch nicht wahr sein“, maunzt das Mädchen. „Ich habe Dir schon mal gesagt, dass Du viel tiefer in die Nase gehen und auch mehr Umdrehungen machen musst. Aber ich bin ja nur für den Rachen zuständig.“
Ich nehme das Stäbchen und zeige ihm, wie es gemacht wird. Auch hier hat sich offensichtlich niemand die Mühe gemacht, die Jugendlichen gründlich zu instruieren.
Auch ein Ansatz gegen die Personalnot.
Schon einige Stufen höher rangieren zwei Studierende der Medizin aus dem zweiten Semester. Er stammt aus einer Arztfamilie und will unbedingt Chirurg werden. „Je blutiger, desto spannender. Am liebsten möchte ich in ein großes Unfallkrankenhaus.“ Er quasselt ohne Punkt und Komma und spickt jeden Satz mit Fachbegriffen. Er gibt mir die Thromboseinjektion. Au weia. Auch nach zwei Wochen ist der Einstich deutlich farbig markiert. Mein Student ist wie der Angeberkoch, der es dann doch versaut.
Thomas Vilgis: Kochen für Angeber
Seine Kommilitonin verdreht nur die Augen. Ich lasse sie am folgenden Tag die Spritze setzen und bitte den allwissenden Studenten, sich den Vorgang genau anzusehen und einzuprägen. Was für eine herrliche Schmach.
Noch ein Ansatz gegen die Personalnot.
Zur Vorbereitung auf die Arztvisite, zieht mir die Schwester die Unterhose runter und löst das Pflaster. So liege ich rund 60 Minuten mit nacktem Hintern auf der Seite und warte auf die Visite. Leute kommen herein. Ich liege auf der abgewandten Seite und sehe nichts. Die Visite dauert keine fünf Minuten. „Das sieht ja alles gut aus. Schwester erneuern sie nachher das Pflaster.“ Und weg sind sie. Ich liege noch einmal eine halbe Stunde, bis das Pflaster erneuert wird. Ich denke:
Another one bites the dust (Queen)
Vom folgenden Tag an weigere ich mich, diese Prozedur mitzumachen. Ich ziehe mir die Unterhose erst vom Hintern, als die Truppe bei mir aufkreuzt. Stirnrunzeln bei den Ärzten. Eine Schwester eilt schnell zu mir und entfernt das Pflaster. Es sieht immer noch gut aus. Die Ärzte wollen gehen. Ich stoppe sie.
„Entschuldigung, ich habe einige Fragen.“
„Ach so, was wollen Sie denn wissen?“
Ich beginne mit meinen ersten Fragen.
Der leitende Arzt unterbricht. „Das sind jetzt schon drei Fragen. Haben Sie noch mehr Fragen?“
„Ja.“
„Das können wir nicht gebrauchen. Dafür haben wir keine Zeit. Das können Sie alles später klären.“
„Wann und mit wem?“
„Nach Ihrer Entlassung mit dem weiterbehandelnden Arzt.“
„Und wann soll ich entlassen werden?“
„Möglichst morgen.“ Abrupt dreht sich der Arzt um und verlässt anscheinend verärgert über die Störung den Raum.
Folge der Personalnot?
Chefvisite am Donnerstag. Niemand macht sich mehr die Mühe, mich nackt mit halb abgelöstem Pflaster sehen zu wollen. Ich liege in „voller Montur“. Der Chefarzt mit seinen Röntgenaugen wiederholt den bekannten Satz
Das sieht gut aus. Ich sehe, Sie haben auch schon Unterarmstützen. Haben Sie die schon mal ausprobiert?
Seit Dienstag drehe ich in Begleitung Ihrer ausgezeichneten Physiotherapeutin jeden Tag meine Runden und steige Treppen rauf und runter.
Das ist gar nicht vermerkt bemerkt die Mitarbeiterin, die meine Akte vorzeigt.
Na, wenn Sie damit schon so gut zurechtkommen, dann können Sie meinetwegen in zwei Tagen raus.
Von wegen drei Wochen im Krankenhaus!!!
Nachmittags kommt ein Herr in mein Zimmer und möchte eine Unterschrift. „Worum geht es denn?“
„Wollen Sie die Unterarmstützen, oder verzichten Sie darauf?“
Ich bin irritiert. „Wie soll ich mich denn ohne Krücken bewegen, wenn ich mein operiertes Bein nur mit 20 kg belasten darf?“
„Es kann doch sein, dass Sie zuhause schon 5 Paar Unterarmstützen stehen haben und diese nicht benötigen. Sie würden die dann nur bis zu Ihrer Entlassung behalten. Der Transport erfolgt doch liegend. Und zuhause hätten Sie ja genügend Stützen.“
„Nein, habe ich nicht. Ich möchte dieses Paar behalten.“
„Dann bekomme ich hier eine Unterschrift für die Rechnung.“ Auf seiner Rechnung steht die falsche Anschrift. Mich wundert nichts mehr. Ich korrigiere. Der Herr dankt und verschwindet.
Eine Schwester rauscht rein und bespricht mit mir die Entlassung.
Liegendtransport.
Wo liegt denn Weiterstadt?
Wieso Weiterstadt?
Da müssen Sie doch hin. Das ist doch ganz weit weg. Das wird nicht so einfach sein. Da müssen wir mal schauen, wer Sie dahin bringen kann.
Ich wohne in Berlin, und das habe ich inzwischen 1 Million Mal zu Protokoll gegeben.
Ach, das ist gut. Das ist ja nicht so weit. Ich benötige aber noch ein Fax von Ihrer Krankenversicherung, dass die auch den Transport bezahlen.
Der Fahrdienst soll mir eine Rechnung schicken. Ich regele das dann mit der Kasse.
Nein, das geht so nicht. Wir benötigen ein Fax, sonst können wir den Transport nicht veranlassen.
Anruf bei meiner Kasse: Quatsch. Die sollen Ihnen eine Rechnung schicken, oder direkt mit uns abrechnen.
Nur widerwillig gibt die Schwester klein bei. Der Abtransport soll am Samstag um ca 09:00 erfolgen.
Visite am Freitag: Der Tross ist, bis auf den Arzt, unverändert. Er stellt sich vor mein Bett, bemerkt die Krücken, wiederholt die Frage des Kollegen vom Vortag und dann:
„Wenn das doch schon so gut läuft, dann können wir sicherlich zum Ende der kommenden Woche über eine Entlassung sprechen.“
„Nein, das werden wir nicht. Ich gehe am Samstagvormittag. So wurde es gestern bei der Visite besprochen und beschlossen. Wird denn hier gar nichts in der Patientenakte festgehalten? Wozu kommen Sie hier immer mit einem Tross an Menschen an, wenn nicht einmal die Ergebnisse der Visite festgehalten werden?“
Der Arzt ist ein wenig irritiert, nickt nur kurz und verschwindet mit seiner Entourage.
Haben die nur zu wenig Personal oder einfach eine grottenschlechte Organisation?
Samstag 09:00. Ich frage nach dem Transport.
„Der kommt schon noch. Gedulden Sie sich noch ein wenig.“
09:30. Ich sitze auf dem Klo. Die Tür wird aufgerissen. Die Schwester für den Transport steht vor mir. „Raus“ brülle ich. „Aber es geht um …“ „Sofort raus.“ Ich beende meine Toilette und verlasse das Bad. Draußen läuft eine völlig aufgelöste Tigerin herum.
Der Transport verschiebt sich. Die haben da was verwechselt. Sie bleiben bis Montag. Dann werden Sie nach Berlin gebracht.
Nein, ich bleibe nicht bis Montag, auch nicht bis Sonntag, auch nicht bis heute Abend. Sie sorgen dafür, dass ich heute Vormittag hier rauskomme.
Es geht noch eine Weile hin und her. Schließlich werde ich um 12:45 abgeholt und nach Berlin gebracht.
Freedom (Richie Havens)
Nachtrag 1:
In meinen Unterlagen befindet sich ein Implantate-Pass, selbstverständlich mit der falschen Anschrift, ohne Stempel und Unterschrift der Klinik, ohne Angabe, ob die eingesetzten Implantate MRT sicher sind.
Ich rufe nachmittags in der Klinik an und lasse mich mit meiner Station verbinden.
„Zur MRT-Frage kann ich Ihnen nichts sagen. Ich habe heute auch keinen Arzt mehr hier. Aber rufen Sie doch in der Röntgenabteilung an. Die wissen das.“
„Dann verbinden Sie mich bitte.“
„Das geht nicht. Aber ich gebe Ihnen die Durchwahl.“
Die freundliche Röntgendame verliert nach gefühlt zehn Sekunden die Contenance.
„Das ist typisch für die Idioten. Die arbeiten immer so schlampig. Rufen Sie da wieder an. Hauen Sie mit der Faust auf den Tisch. Verlangen Sie, dass Ihnen sofort ein korrekter Implantate-Pass ausgestellt wird. Drohen Sie mit Konsequenzen und mit Beschwerde an oberster Stelle. ….“
Welch treffende Beschreibung der Zustände in dieser Klinik.
Ich rufe am folgenden Tag wieder auf meiner Station an, lande bei Schwester X und bitte sie freundlich um verbindliche Auskunft.
„Sämtliche Implantate sind seit längerem MRT sicher.“
„Das weiß ich aber nicht. Und wie ist das im Ausland? Es wäre daher schon hilfreich, wenn Sie das entsprechende Feld ankreuzen. Und es fehlen auch der Klinikstempel, die Unterschrift des Arztes, meine korrekte Anschrift etc. etc.“
„Wir kriegen das so aus dem OP und geben das nur weiter.“ Und dann legt sie auf.
Nachtrag 2:
Die Physiotherapeutin ist noch in der Ausbildung. Sie will im Sommer fertig sein und später ein Studium zur Ausbilderin absolvieren. Sie hat einen super Job gemacht. Ich wünsche ihr ganz viel Erfolg und dass sie nach ihrem Ausbildungsabschluss ganz schnell woanders anfängt.
Das für die Essensbestellung und -austeilung zuständige Team hat sich das Gesäß aufgerissen, um die Wünsche der Patienten zu befriedigen. Ich wollte weder Brote mit Käse noch mit Wurst und bekam Joghurt, Müsli und Obst. „Der Joghurt ist sehr fest. Sollen wir Ihnen noch Milch organisieren?“ „Gerne“. Die Damen und Herren waren gut aufgelegt, freundlich und absolut kundenorientiert. Großes Lob.
Schlusswort:
Ich weiß nicht, ob ich das alles nur geträumt habe. Vielleicht habe ich doch zu viel Cocaine geschnupft. Andererseits, wenn ich mir mein Bein ansehe ….