Juni 2020
 Geschichten

Berliner Normalität in Bus und Bahn

The Times they are a changing

Come mothers and fathers
Throughout the land
And don’t criticize
What you can’t understand
Your sons and your daughters
Are beyond your command
Your old road is rapidly agin‘
Please get out of the new one
If you can’t lend your hand
For the times they are a-changin‘

Bob Dylan

Kapitel 1

Morgens um 09:30 in der U9 von der Berliner Straße zum Osloer Platz. Rechts von mir in der langen Bankreihe eine Frau, Ende 30 oder Anfang 40? Wie soll man das Alter von Menschen schätzen, die sich hinter Gesichtstüchern verstecken?  Weiße Sneaker mit buntem Strass besetzt, hellblaue Jeans mit den obligatorischen von der Mode diktierten Löchern und blau-weiß gestreiftem Shirt. Die blonden Haare, sie scheinen Natur, trägt sie modisch kurz. Es sieht aus, als hätte sie sich gerade durch die Haare gewuselt; einige Strähnchen fallen ihr in die Stirn, haben sich aber nicht getraut, ihre akkurat gezupften, tief schwarz gefärbten Augenbrauen zu bedecken. Lässig hat sie ihre Schultertasche, wohl eher ein Schulterbeutel, neben sich gestellt. Sie sitzt entspannt und liest auf Ihrem Smartphone.

An der Güntzelstraße setzt sich eine Frau rechts neben sie. Sie scheint mir etwa genau so alt, groß, schlank, dunkle Hautfarbe, raspelkurze schwarze Haare. Wären sie länger, sähe sie vermutlich wie seinerzeit Marsha Hunt mit ihrem wilden Afrolook aus. Die war in den sechziger Jahren optisches Vorbild nicht nur meiner Freundin. Auf unseren Partys wurde ihr souliger Funk-Rock immer wieder gerne aufgelegt. Die neue Mitfahrerin ist ganz in schwarz gewandet, von den Pumps über die Tuchhose bis zur langen Tunika. Lediglich ihr Gesichtsschutz ist bunt gestreift.

Meine Nachbarin sieht sie an, steht auf und setzt sich links von mir auf die Bank. Ich sehe sie fragend an. Sie verzieht das Gesicht. „Das ist eine Ausländerin. Die haben uns das Virus eingeschleppt. Die sind an allem schuld. Denen muss man ausweichen.“ Ich schüttele den Kopf, stehe auf und setze mich neben die vermutete Ausländerin. Wir sehen uns an. Sie zuckt die Schultern. „Ich kenne das. Auch hier im bürgerlichen Wilmersdorf/Charlottenburg bei den vielen sogenannten Gebildeten ist Ausländerfeindlichkeit an der Tagesordnung. Dazu muss ich nicht erst in den Osten fahren. Dabei musst Du nicht einmal Ausländerin sein. Du hast eine andere Hautfarbe, und schon bist Du die Zugereiste.“ Wir unterhalten uns dann, und ich erzähle ihr von meiner Assoziation mit Marsha Hunt. Sie lacht. „Nein, an diese Zeiten kann ich mich nicht erinnern. Aber Angela Davis sah damals wohl genauso aus. Mir wäre das viel zu lästig.“ Und dann sprechen wir noch über Musik. Ich muss lachen. Sie hatte mal eine – wenn auch kurze Phase – da fand sie Helene Fischer gut. Heute hört sie aber überwiegend Klassik und die Stars der Afromusik. „Ich bin halt Negerin und kann den Hüftschwung.“ Sie lacht, steht auf, winkt mir zu und verlässt an der Turmstraße die Bahn.

Kapitel 2

Nachmittags auf der Rückfahrt im Bus vom Ossietzkyplatz zur Bahn. Ich habe einen Vierersitz. Zwei Jungs, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, setzen sich auf die typisch linkische Art Pubertierender mir gegenüber, grinsen fast verlegen mit ihren zahnschienenbestückten Zähnen, jeder mit einer Großpackung Eistee bewaffnet. Der eine, weißes Unterhemd, kurze schwarze Hose, schwarze Sandalen, keine Socken. Dem anderen, er sitzt mir direkt gegenüber, sind die dunklen Socken fast ganz in seine schwarzen, staubig-schmutzigen Sneaker gerutscht. Seine kurze Popelin Hose hat ein schwarzes und ein blaues Bein. Auf seinem schwarzen Pulli prangen einige schwarze Sterne auf den weißen Ärmelstreifen. Sein braun-beige geflochtenes Täschchen an grün-rotem Band macht mich neugierig, zumal die grüne Kappe von etwas mir nicht Ersichtlichem aus dem Täschchen ragt. Gesichtsschutz tragen sie nicht. Ich zeige auf meine Maske und schaue sie fragend an. Sie zucken die Schultern und nesteln an ihren Eisteepackungen. Der mit dem Unterhemd scheint der Stärkere. Er öffnet seinem Kumpel die Packung. Der lässt sogleich einen ordentlichen Schwall auf seine Hose und seine Beine spritzen. „So ein Mist, ich klebe total.“ Der andere grinst nur. Dann vertiefen sich beide in ihre Smartphones und spielen irgendwas. Wir sind einige Minuten gefahren, da greift mein Gegenüber in sein Täschchen und zieht eine gewaltige Goldkette hervor. Umgehängt reicht sie ihm bis zur Brustmitte. Dann verziert er sein linkes Handgelenk noch mit einem glänzenden Metallarmband. Ich bin erstaunt, habe aber die Krönung noch nicht erlebt. Er zieht ein kleines Fläschchen aus dem Täschchen und sprüht sich eine ordentliche Dosis Parfum in den Ausschnitt. „Bäh, Du stinkst wie ein halber Puff“ meckert sein Kumpel, rümpft die Nase und dreht sich demonstrativ zum Busfenster.

In meiner Jugend wäre ein solcher Junge vermutlich nicht einen Tag ohne Blessuren nach Hause gekommen und hätte sich dort die nächste Tracht Prügel abgeholt. Mein Klassenkamerad Heinz-Georg kam nach Weihnachten mit einem ziemlich zerschrammten Gesicht in die Schule. Er hatte beim weihnachtlichen Mittagessen den Eltern kundgetan, dass er schwul sei. Schon flog ihm die Suppenschüssel an den Kopf. Ich wünschte mir als Kind einen Kaufladen zu Weihnachten und nicht, wie mein älterer Bruder, einen Flugzeugbausatz oder einen Panzer. Mein Vater nannte mich über die Weihnachtstage nur noch Michaela.

Ich freue mich, dass der Junge mir gegenüber ohne Scheu und Angst sein Anderssein in der Öffentlichkeit zeigt. Was aber wäre, wenn er so in einer bayerischen, westfälischen oder ostdeutschen Kleinstadt ankäme?

The Times they are a Changing. Doch sicher noch nicht überall.