Mit der Deutschen Eisenbahn musst Du mit Musike fahr’n
Die erste Fahrt
Der Auftrag
Donnerstag, 04. April 2024. Bahnfahrt von Essen nach Coesfeld. Termin um 14:00. Knapp 70 km. Der Regionalverkehr ist ziemlich zuverlässig. Ein wenig Spielraum einplanen, dann sollte es locker klappen.
Die Strecke
Empfehlung meiner DB-App:
11:31: RE 14 von Gleis 8 Richtung Borken bis Dorsten. Ankunft in Dorsten 12:01 auf Gleis 1.
Umstieg
12:07: RE 14 von Gleis 1 Richtung Coesfeld mit Ankunft in Coesfeld um 12:46.
Dazu folgende Info in der App:
Aufgrund einer Reparatur an mehreren Zügen kommt es bis zum 04.05.2024 Betriebsschluss auf der Linie RE 14 montags bis samstags in Dorsten zu einem Bahnsteigwechsel und somit zu einem erforderlichen Umstieg. Sonntags ist ein Umstieg nicht erforderlich. Die Fahrten aus Coesfeld in Richtung Dorsten enden in Dorsten in Gleis 5. Die Fahrten von Dorsten in Richtung Coesfeld beginnen in Dorsten in Gleis 5. Alle Fahrten zwischen Borken und Essen Hbf fahren mit vermindertem Platzangebot. Aus Richtung Coesfeld in Richtung Essen Hbf ist in Dorsten ein Umstieg erforderlich. (planmäßige Ankunft aus Coesfeld in Dorsten in Gleis 5; Abfahrt in Dorsten nach Essen von Gleis 2). In Richtung Coesfeld aus Essen Hbf kommend ist ein Umstieg in Dorsten erforderlich (planmäßige Ankunft aus Essen Hbf in Dorsten in Gleis 1; Abfahrt in Dorsten nach Coesfeld von Gleis 5).
Geht’s nicht noch umständlicher?!
Und wieso soll ich in Dorsten aus dem RE 14 aussteigen und dann mit dem RE 14 weiterfahren?
Nur die Ruhe. Als DB-Vielfahrer weiß ich, was zu tun ist:
Blick auf die Infoanzeige im Hbf Essen
Der Zug wird als Flügelzug angezeigt, besteht also aus zwei miteinander verbundenen eigenständigen Zügen, die einen Teil der Strecke gemeinsam fahren, dann aber irgendwann getrennt werden und unterschiedliche Ziele ansteuern. Laut Anzeige fährt ein Teil bis Borken, der andere bis Coesfeld. Wo die Trennung erfolgt, zeigt die Info nicht. Zudem ist mir nicht klar, welcher Teil wohin fährt.
Ab zur Info
Ich zeige dem Herrn die Info aus der App und frage, ob ich in Dorsten umsteigen muss. Die freundliche Auskunft: „Von einem Umstieg in Dorsten weiß ich nichts. Sie können im Zug sitzen bleiben. Der Zug wird in Dorsten nur geteilt.“
„In welchen Zugteil muss ich denn hier einsteigen?“
„Das können Sie direkt außen am Zug erkennen. Jeder Teil hat eine entsprechende Beschilderung.“
Suche am Zug
Auf zu Gleis 8. In der Realität ist das Gleis in 8a und 8b geteilt. Mein Regionalzug steht ziemlich weit hinten. Macht nichts. Ich habe noch Zeit.
Am Zug angekommen, sehe ich die digitale Anzeige „Borken“. Auf der Suche nach der Anzeige „Coesfeld“ gehe ich am Zug entlang Richtung zweitem Zugteil. Unterwegs immer nur „Borken“. Klar, „Coesfeld“ muss ja auch erst am zweiten Zugteil stehen. Nix da; auch dort steht „Borken“. Ich bin verwirrt. Fährt der Zug gar nicht nach Coesfeld? Oder ist es doch so, dass ich in diesem Zug bis Dorsten bleibe und dann, wie in der App angegeben, in den Zug nach Coesfeld umsteigen muss? Wie dem auch sei, die Richtung nach Borken passt schon. Nix wie rein in den Zug.
Musik
Keine Bahnfahrt ohne Rundes in die Ohren. Ein Stapel neuer Scheiben wartet auf mich. Entspannung pur, aber auch zahlreiche „musikalische“ Bahnassoziationen.
Manou Gallo: Afro Bass Fusion (2024)
Ende der 1990er Jahre stolperte ich in ein Konzert der belgischen Gruppe Zap Mama. Am Bass wirbelte Manou Gallo. Sie stammt aus Divo in Côte d’Ivoire und hat seitdem mit ihren eigenen Gruppen die Afrobeat-Szene aufgemischt. Fünf Jahre nach ihrem vielfach gefeierten Album „Afro Groove Queen“ gibt es endlich Neues von ihr. Afro Bass Fusion ist eine bunte Reise durch Afrika und seine vielen Stile.
Besonders gefällt mir der nur vom Bass begleitete Sprechgesang Coutoucoucoupecpe unmittelbar gefolgt von dem Klassiker Soul Makossa, den Manou aber auf streamingdiensttaugliche 3 Minuten verkürzt hat. Der elektronische Sound von Kpolo Saka ist im Stil „Coupé Decalé“ gehalten. für Manou Gallo ist dieser Sound „der Sound der Jugend, der Sound der Zukunft.“
Na ja, ich will heute auch nicht „aussteigen und eintauchen“; ich will pünktlich ans Ziel gelangen. Also zurück zur Bahnfahrt
Hoffen auf Klärung durch das Personal
Im Wagen weist die digitale Anzeige Borken als Ziel. Na, da bin ich wohl im richtigen Zug, aber offensichtlich doch im falschen Zugteil. Vielleicht kommt ja noch rechtzeitig ein Zugbegleiter. Pustekuchen.
Kurz vor Dorsten Durchsage des Zugchefs: „Liebe Fahrgäste. In Dorsten wird unser Zug geteilt. Der hintere Zugteil fährt weiter nach Borken. Der vordere Zugteil fährt weiter nach Coesfeld. Sie haben in Dorsten Zeit, um ggf. in den anderen Zugteil umzusteigen.“ Glück gehabt, ich sitze im Zugteil nach Coesfeld.
Kurz darauf erfolgt die Bandansage: „… Der hintere Zugteil fährt weiter nach Coesfeld. Der vordere Zugteil fährt weiter nach Borken…“
Na, was denn nun? Allgemeine Unruhe im Wagen. Unsere Wagenanzeige weist weiterhin Borken als Ziel. Ich vertraue der Ansage des Zugchefs.
Halt In Dorsten. Unsere elektronische Anzeige weist noch immer Borken als unser Ziel aus. Einige Reisende hält es nun nicht mehr bei uns. Sie flitzen raus und rennen nach hinten, während andere Reisende von hinten zu uns eilen. Ich bleibe stur.
Des einen Freud, des anderen Leid
Nach rd. zehn Minuten, wir sind kurz vor Wulfen, springt unsere Anzeige um auf Ziel Coesfeld. Zwei junge Ausländerinnen schauen konsterniert. „Isn’t this the train to Borken?“ The display here showed Borken as the destination the whole time. Why does it suddenly show Coesfeld now? What does that mean? Are we in the wrong train?
Ich erkläre kurz die Situation und empfehle ihnen, in Wulfen auszusteigen, mit dem Gegenzug bis Dorsten zurückzufahren und dort in den Regionalzug 14 nach Borken einzusteigen. Die jungen Frauen schauen mich konsterniert an. Kopfschüttelnd verlassen sie den Zug in Wulfen. Ich hoffe, sie kommen zurecht.
Musikalisches Zwischenspiel
StimmGold: Durch den Wald (2023)
Leider habe ich das 2014 gegründete Regensburger Vokalensemble noch nie Live erlebt; doch ihre Kostproben im Rundfunk und ihre Einspielung „Stadtlich – Urbane Volksmusik“ haben mich bereits fasziniert. Nun also ihre Max Reger gewidmete Einspielung „Durch den Wald“. Das Besondere dieser Aufnahme: StimmGold verbindet Naturbetrachtungen in Regers Chorwerk mit modernen Kompositionen z. B. von Theresa Zaremba und Timothy C. Tackach zum Thema Klimawandel. Die Kompositionen wurden eigens für das Album geschrieben, immer auch mit Bezug zu Reger. Ein schönes Beispiel ist Glazialrelikt. Besonders bewegend finde ich die Reworks Regerscher Motetten von Theresa Zaremba, in denen sie die Orgel durch Synthesizer ersetzt und einen ganz eigenen Sound kreiert, z. B. in O Tod, wie bitter bist du – Rework I
Asher Gamedze: Turbulence And Pulse (2023)
1995. Südafrikanische Musiktradition. Autodidakt. Schlagzeug. Komposition. Der Spirit von John Coltrane. Great Black Music des Art Ensemble of Chicago. Dialectic Soul auf dem Jazzfest Berlin. Und dann Turbulence And Pulse.
Schöne Beispiele sind If It Rains. To Pursue The Truth und Can’t See The Sun.
Die zweite Fahrt
Der Anlass
Wir feiern 50 Jahre Abitur. Am 20.04. im Kolpingbildungszentrum in Coesfeld. Zu unserer Zeit war der Ort ein Internat für auswärtige Schülerinnen und Schüler unserer nebenan gelegenen Schule, dem Pius-Gymnasium.
Bernd, Heiner und Peter haben alles organisiert. Eine Mammutaufgabe, da das letzte Treffen 25 Jahre zurückliegt und sich Adressen und einige Namen im Laufe der Zeit geändert haben. 15 Zusagen, nur drei Absagen wegen Krankheit bzw. Abwesenheit. Super!
Das Orga-Triumvirat musste aber noch eine besondere Herausforderung lösen: Sollte ich überhaupt eingeladen werden?
Ich war durchs Abi gefallen, kann also erst 2025 auf 50 Jahre Abitur zurückschauen. Ganz nebenbei: nach Aussagen meines Lateinlehrers war ich übrigens der erste Schüler, der am Pius nicht auf Anhieb das Abitur geschafft hatte.
Keine Frage, ich gehöre dazu und werde selbstverständlich eingeladen.
Start um 15:00 mit Kaffee und Kuchen. Danach Führung durch das Pius. Die Tochter unserer ehemaligen Klassenlehrerin, seit einigen Jahren selber Lehrerin am Pius, wird uns durchs Gebäude führen.
Ich besorge am Vormittag noch schnell für die Organisatoren ein kleines Dankeschön bei Dobbelstein in Duisburg und mache mich auf den Weg gen Coesfeld.
Und hier beginnt das Abenteuer:
Die Strecke
Die Empfehlung meiner DB-App und meine Entscheidung
12:10: ICE 849 bis Dortmund. Ankunft lt. Plan 12:45. Weiterfahrt um 12:53 mit RB 51 bis Coesfeld. Die Umsteigezeit von 8 Minuten ist mir angesichts meiner Bahnerfahrungen zu kurz.
Meine Entscheidung
11:47: ICE 202 bis Dortmund. Ankunft lt. Plan 12:22. Weiterfahrt um 12:53 mit RB 51 bis Coesfeld. Umsteigezeit 31 Min. Das sollte reichen. Zur Not habe ich dann immer noch den ICE 849 in der Hinterhand.
Das Bahn-Dilemma
ICE 202 wird nach und nach mit immer größerer Verspätung angezeigt. Der Vorsprung schmilzt auf 5 Min. Umsteigezeit. Ich renne von Gleis 10 die Treppe runter und an Gleis 13 wieder hoch zum ICE 849. Doch auch dort springt gerade die Anzeige um. 10 Min. Verspätung. Also wieder zurück. Oben angekommen heißt es bereits „30 Minuten Verspätung“. Merde. Aber es gibt noch Hoffnung.
Ein neuer Versuch
Um 12:15 mit dem RE 6 bis Essen mit planmäßiger Ankunft in Essen um 12:27 auf Gleis 6. Dazu zwei Anschlussoptionen:
Um 12:31 von Gleis 8 mit RE 14 bis Dorsten. Dort Umstieg auf RE 14 bis Coesfeld.
Mir scheint diese Option allerdings wenig erfolgreich: 4 Minuten für den Umstieg in Essen mit Wechsel des Bahnsteigs sind extrem sportlich.
Es gibt aber noch eine Möglichkeit:
Um 12:46 von Gleis 22 mit RE 42 bis Dülmen. Dort Umstieg auf RB 51 bis Coesfeld. 19 Minuten für den Umstieg mit Gleiswechsel sollten reichen.
Musik
Und wieder heißt es, Kopfhörer auf und Rundes in die Ohren
Lizz Wright: Shadow (2024)
Seit vielen Jahren lausche ich der Altstimme von Lizz Wright, und wo immer möglich, lasse ich mich von ihrer Livepräsenz beeindrucken. Mein Wunsch, Sie im Herbst in ihrer Kaffeebar in der South Side von Chicago zu treffen, wird sich leider nicht erfüllen. Lizz tourt durch Europa.
Shadow ist auf ihrem neu gegründeten Label erschienen und für mich ein kleines Wunderwerk, wohl eine ihrer besten Einspielungen.
Herrlich, wie Lizz Wright und Angelique Kidjo im Auftaktlied Sparrow harmonieren.
Sandy Denny’s Who Knows Where The Time Goes habe ich bislang nur live von Lizz gehört. Endlich hat sie es auch aufgenommen. Gänsehaut.
Aber zurück zur Bahnreise
Das Bahnhofs-Dilemma
Mein Zug startet pünktlich in Duisburg, kommt aber mit 6 Minuten Verspätung in Essen an. Damit ist die erste Anschlussoption endgültig hinfällig. Bleibt noch die zweite Möglichkeit mit immerhin noch 13 Minuten Zeit für den Umstieg. Das sollte reichen.
Jedoch…: Ich sitze im hinteren Zugteil. Folge im Bahnhof den Mitreisenden zum nächst gelegenen Ausgang. Finde dort keinen Hinweis auf Gleis 22. Frage Ortskundige nach dem Gleis. Muss raus dem Bahnhof. An der Außenseite bis zur Haupthalle laufen. Dort die Treppe rauf und zum Gleis. Pech gehabt. Der Zug fährt mir vor der Nase weg.
Noch ein Versuch
Hin zur Info. Dort Bestätigung, dass die nächste Möglichkeit in einer Stunde besteht – mit dem RE 14. Der ist mir inzwischen fast ans Herz gewachsen. Ich frage vorsichtshalber nach, wie es mit dem Umstieg in Dorsten aussieht. Ich kenne ja die Problematik mit dem Flügelzug. „In Dorsten müssen Sie den Zug wechseln. Das ist kein Problem. Sie haben 6 Minuten Zeit. Das reicht, da der Wechsel auf demselben Gleis stattfindet.“
Zähneknirschend setze ich mich in die Lounge, trinke Kaffee und warte auf den Zug.
Musik
Brötzmann – Bekkas – Drake: Catching Ghosts (2023)
Ich bin sauer. Jetzt muss erst mal Brötzmann ran. Catching Ghosts, eine Aufnahme vom Jazzfest Berlin 2022, habe ich X-fach gehört. Sie zeigt das Trio in bester Laune. Ein toller Diskurs zwischen dem Freejazzer Brötzmann, dem marokkanischen Oud-Spieler und Sänger Majid Bekkas sowie dem in vielen Kulturen beheimateten Schlagzeuger Hamid Drake. Tranceartige, traditionelle Gnawa-Lieder. Jedes der vier Stücke eine Offenbarung. Bereits der Opener Chalaba zeigt die Intensität des Zusammenspiels, das nahezu ausschließlich aus dem Moment heraus entsteht. Wo der 81jährige Brötzmann, kaum von einer Covid-Infektion genesen, die Kraft hernimmt, ist unfassbar. Leider seine letzte Aufnahme. Im Juni 2023 ist er gestorben.
Danach greife ich wieder zu meinen Neuerwerbungen:
Jaimie Branch: Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die ((World War)) (2023)
Fly Or Die steht im Zentrum der wenigen eigenen Plattenaufnahmen der Trompeterin, Sängerin und Komponistin Jaimie Branch. Als Studentin trifft sie den Trompeter Axel Dörner. Seine ausgefeilten Techniken, den Trompetensound elektronisch zu verfremden, begeistern sie. In den Folgejahren spielt Jaimie mit fast allen Stars des modernen Jazz.
Bereits ihre erste Fly Or Die Platte hat nicht nur mich begeistert. Ihre letzte Aufnahme, die sie noch kurz vor ihrem Tod final abmischt, durchbricht Konventionen und musikalische Grenzen.
Mit gerade einmal 39 Jahren stirbt Jaimie vermutlich an einer Überdosis.
Der Vergleich von The Mountain mit dem Original Comin‘ Down von den Meat Puppets macht viel Spaß. Den flotten Countrysong der Meat Puppets versetzt Jaimie Branch in ein lediglich von Bass und einigen wenigen Trompeteneinsprengseln begleitetes Zeitlupenstück.
Im Refrain heisst es:
Schauen wir mal, was meine Zugfahrt so macht:
13:31: Auf in den RE 14 bis Dorsten. Ankunft lt. Plan 14:01 auf Gleis 1. Abfahrt 14:07 mit RE 14 lt. App und Bahnhofsauskunft vom selben Gleis.
Beam Me Up Scotty
Statt planmäßiger Ankunft in Dorsten um 14:01, halten wir um 14:06 auf Gleis 1. Da die Weiterfahrt lt. Info und meiner App vom selben Gleis mit dem Folgezug erfolgen soll, bin ich vorläufig beruhigt. Vermutlich wird unser Flügelzug doch geteilt oder der Folgezug kommt mit einigen Minuten Verspätung auf unserem Gleis an.
Weit gefehlt. Ich muss in 60 Sekunden zu Gleis 5 flitzen. Ohne die intergalaktische Hilfe von Scotty unmöglich zu schaffen, sofern der Zug nach Coesfeld nicht wartet oder verspätet ankommt. Einen Versuch ist es also wert. Ich nehme die Beine in die Hand, renne von Gleis 1 an einer Baustelle vorbei, eine Treppe runter, durch einen langen Tunnel und eine Treppe wieder hoch. Kein Zug. Vielleicht hat er ein paar Minuten Verspätung. Ein älteres Paar kommt mir schimpfend entgegen. „Diese Idioten. Die sehen doch, dass wir nicht mehr gut zu Fuß sind. Wir waren nur ein paar Meter vom Zug entfernt, und das blöde Ding haut ab. Wir gehen wieder nach Hause.“
Das Bahnhofs-Dilemma
Es regnet in Strömen. Ich will im Bürgerbahnhof Dorsten verschnaufen. Pech gehabt. Geschlossen. An einem Samstagmittag. Unglaublich. Ich gehe rüber zur Fahrradstation. Vielleicht gibt es dort ja eine Möglichkeit. Vergeblich. Ein verzweifelter Herr fragt mich, ob es hier am Bahnhof ein Klo gibt. Ich zeige auf die nächsten Büsche.
Musik
Kim Gordon – The Collective (2024)
Wen wundert’s, dass ich jetzt in düsterer Stimmung bin. Kim Gordon, die seinerzeit bei Sonic Youth gegen den Gitarrenkrach der Kerle ansang, schafft auf „The Collective“ mit Drum-Computer und dissonanten Synthi-Klängen gerade genau die passende musikalische Umgebung für mich. Am 6. Juli spielt sie in Berlin Kreuzberg ihr Album „The Collective“. Der Termin ist bei mir geblockt.
Bye Bye bedient sich des gleichen Themas wie das Beatles-Stück „She’s Leaving Home“: Eine Frau verlässt das Haus und zählt auf, was sie in ihrem Gepäck hat, von der Zahnpasta bis zum Vibrator, der im Übrigen im Beatles-Stück nicht vorkommt.
The Final Countdown
Inzwischen bin ich drei Stunden unterwegs für eine Strecke von etwa 36 km, und ich habe noch 37 km vor mir. Ich könnte noch eine Stunde warten und dann mit dem RE 14 … Auf keinen Fall. Für heute habe ich genug vom Abenteuer Bahn.
Ich springe in ein Taxi und lasse mich für 120 EUR inkl. Trinkgeld zum Ziel fahren. Ankunft um 15:30 Uhr.
Musik
Im Wagen habe ich hinreichend Zeit, durchzuatmen und wieder in Muße der Musik zu lauschen.
Einstürzende Neubauten: Rampen (2024)
Vier Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung „Alles in Allem“ liefern die Einstürzenden Neubauten mit Rampen ein Meisterwerk. Seit fast 45 Jahren spielen Blixa Bargeld (auch ein Gründungsmitglied von Nick Cave and the Black Seeds) und seine Mitspielerinnen und Mitspieler ganz oben im Olymp der experimentellen Musik.
Rampen sind mitgeschnittene Live-Improvisationen, die anschließend im Studio zu Songs umgearbeitet werden.
Die Tour läuft. Ich habe mir den 09.09. in Berlin vorgemerkt.
Hier einige Textbeispiele aus ihrem aktuellen Album:
Everything Will Be Fine
…
Brandlinien Schnittmenge Spontanes Bombardement
Wo sollen wir denn jetzt noch hin? Or is this all dead end?
Neuseeland ist vorüber das kommt leider manchmal vor
Der Rabe hat sein Lied verloren:
Nevermore and Nevermore
Everything will be fine
wers glaubt wird selig
It’s time and nothing else but time
Ick wees nich (Noch nich)
Ick wees nich
…
Is allet verschoben
Dit is nich hier und och nich da
Noch nich
Ick wees nich
Keene Ahnung
Wat sich da nu verschoben hat
…
Irjendwie schief
Und allet hat sich uffjelöst
Wat nu?
Irjendwann issit denn soweit
Denn issit da
Abba
Noch nich
Ich freue mich auf einige anregende Stunden mit den „alten Kameraden“. Freudige Begrüßung.
Musik
Und daher hier zum Schluss noch einmal Musik.
Stoppok: Teufelsküche (2024)
Seit Jahrzehnten renne ich in die Konzerte von Stefan Stoppok, einem wahren Satan der Saiten und zugleich feinsinnigen Lyriker mit oft mindestens einem Augenzwinkern. Von der sanften Ballade bis zum rockigen Kracher – er kann’s einfach.
Den Hamburger, der in Essen aufwuchs, wollten die Folkwang Professoren nicht. Dann einige Jahre Straßenmusiker fast überall in Europa, ob damals schon im rosafarbenen Cadillac und ausgedrehten Klamotten, weiß ich nicht. Egal.
Inzwischen sind die Konzerte dieses Geheimtipps aus dem Revier seit vielen Jahren ausverkauft, auch wenn er Gott sei Dank keine Stadien füllt, wie Grönemeyer und Co.
Auch Teufelsküche ist wieder ein abwechslungsreiches nachdenkenswertes und musikalisch dichtes Album. Die Endlichkeit des Lebens zieht sich fast wie ein roter Faden durch das Album. Kein Wunder, war Stoppok nach einem Herzinfarkt vor zwei Jahren dem Tod nur knapp von der Schüppe gesprungen.
Im Wartesaal zum großen Glück interpretiert Stoppok gemeinsam mit Alin Coen, ein Klassiker aus dem Jahr 1956. Das von Walter Andreas Schwarz geschriebene und vorgetragene Chanson war der erste Beitrag Deutschlands zum Gran Premio Eurovisione della Canzone Europa. Welchen Platz Schwarz erzielte, ist nicht bekannt. Damals wurden nur die Siegertitel offiziell angegeben.
Wir pfeifen (Das letzte Loch)
Fast könnte man meinen, Stoppok hätte diesen Kinderreim für die DB geschrieben. Hier bringt er ihn wunderbar mit Unterstützung durch Hannes Ringlstetter und Fortuna Ehrenfeld zu Gehör.
Musikbeispiele
Manou Gallo: Afro Bass Fusion (2024)
Coutoucoucoupecpe
Soul Makossa
Kpolo Saka
StimmGold: Durch den Wald (2023)
Glazialrelikt
O Tod, wie bitter bist du – Rework I
Asher Gamedze: Turbulence And Pulse (2023)
If it Rains. To Pursue the Truth
Can’t See the Sun
Lizz Wright: Shadow (2024)
Sparrow
Who Knows Where The Time Goes
Brötzmann – Bekkas – Drake: Catching Ghosts (2023)
Chalaba
Jaimie Branch: Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die ((World War)) (2023)
„The Mountain“
Meat Puppets
Comin‘ Down
Kim Gordon – The Collective (2024)
Bye Bye
Einstürzende Neubauten: Rampen (2024)
Wie lange noch
Everything Will Be Fine
Ick weeß nich
Stoppok: Teufelsküche (2024)
Wer Du wirklich bist, ft. Cäthe
Im Wartesaal zum großen Glück, ft. Alin Coen
Wir pfeifen aus dem letzten Loch, ft. Rnglstetter u. Fortuna Ehrenfeld