Dezember 2023
 Geschichten

Home Sweet Home

Liebe Leserin, lieber Leser,
Weihnachtszeit ist Lesezeit. Daher ist diese Ausgabe eine Doppelausgabe Dezember / Januar.

Ich wünsche allen meinen treuen, halbtreuen, vierteltreuen und once in a while Leserinnen und Lesern eine entspannte Weihnachtszeit und alles Gute für das neue Jahr.

Mit den besten Wünschen
Ihr und Euer

„Komm rüber Micki. Micki komm rüber.“

In Anlehnung an Achim Reichel „Der Spieler“

Pfungstadt

Kurz vor dem Jahreswechsel 1997 besiegeln wir meinen Wechsel aus dem Ruhrgebiet nach Hessen. Bei meinem ersten Besuch an meiner neuen Wirkungsstätte in Pfungstadt, diesem wohl nicht nur mir völlig unbekannten Städtchen, sticht mir am Ortseingang der Getränkemarkt Maruhn ins Auge: 169 Wasser- und 917 Biersorten. Wow! Guter erster Eindruck. 1855 ließ der Apotheker, Chemiker und Unternehmer Wilhelm Büchner, Erfinder des künstlichen Ultramins und Bruder des Dichters Georg Büchner, die Villa Büchner in Pfungstadt erbauen. Umgeben von Brachland und Wiese steht ein ziemlich heruntergekommenes, dringend renovierungsbedürftiges Anwesen, durch dessen Mauern und Fenstern der Wind pfeift. Ob die Kachelöfen im Winter jemals genügend Wärme gespendet haben, scheint mir fraglich. Den gemütlich wirkenden Bürgermeister Horst Baier lerne ich erst einige Monate später kennen. Ansonsten wirkt Pfungstadt eher langweilig auf mich.

Mein erster Arbeitstag – Mission Impossible?

Mein erster Arbeitstag an der frisch gegründeten Privaten FernFachhochschule Darmstadt (wieso hat die dann ihren Sitz in Pfungstadt? Blöde Frage!). Vertrackte Situation: Der externe Kollege, der den gesamten Gründungsprozess begleitet hat, soll mir zur Seite stehen. Eigentlich wollte er auf den Chefsessel. Doch jetzt bin ich da. Er begrüßt mich. Weist mich auf die komplizierte Materie und die extrem hohen Erwartungen der Gesellschafter hin. Entschuldigt sich, dass er bei dieser „Mission Impossible“ für die kommenden entscheidenden Wochen nicht an meiner Seite sei. „Die jahrelange Doppelbelastung als Studiendirektor der Berufsschule und Berater der Gründerväter der Hochschule hat mich ausgelaugt. Ich werde die kommenden Wochen in Kur sein. Sie können mich aber jederzeit anrufen. Ich helfe Ihnen gerne.“ Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Mach Du nur Deine Kur. Für mich heißt es „Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen“ (Franz Josef Degenhardt: Vatis Argumente).


Die eigentliche „Mission Impossible“ liegt ganz woanders.

Malchen

In den ersten Monaten finde ich Unterschlupf in einem ausgelagerten Studio des ortsansässigen Hotels. Wo? In Malchen. Rd. 1000 Einwohner. Am Fuße der Burg Frankenstein gelegen. Im Naturpark Bergstraße-Odenwald. Das Studio? Reden wir nicht drüber. Aber, nur wenige Schritte, und ich renne morgens ganz früh durch den Wald zur Burg hoch. Hin und wieder pralle ich fast mit einem Reh zusammen. Keine Ahnung, ob das Reh oder ich mich mehr erschrecke. Nur einmal wird es brenzlig. Ich laufe am Nachmittag während eines Fußball Länderspiels durch den Wald, mutterselenallein. Da rasen drei Kampfhunde auf mich zu. Ich erstarre. Alle Regeln für den Umgang mit Hundeangriffen sind vergessen – „Mach Dich ganz klein. Roll Dich zusammen. Sieh dem Hund nie in die Augen. Bleibe ganz ruhig. Sprich ganz leise mit dem Hund“. Die Hunde stehen nur wenige Schritte entfernt und glotzen mich an. Eine halbe Ewigkeit später kommt ein junges Paar angeschlendert. Sie registrieren die Situation. Er brüllt nach den Hunden. Vergeblich. Sie pfeift. Vergeblich. Plötzlich zischen die Viecher durchs Gebüsch davon. Anscheinend haben sie ein Reh oder ein Wildschwein bemerkt. Mir fällt ein Felsbrock vom Herzen. Langsam biegt sich mein Hirn wieder zurecht. Auch das Paar scheint ziemlich erschrocken „Wir hatten gedacht, dass heute jeder Fußball schaut. Da haben wir die Hunde laufen lassen. Das war wohl ein Fehler. Das kommt nicht mehr vor.“ Mir reicht es für heute. Ich schaffe es nicht einmal mehr, das Paar anzubrüllen. Will zurück nach Malchen. Verlange vom Paar, ihre Hunde wieder einzufangen und anzuleinen. Erst nach geraumer Zeit traue ich mich zurück. Es dauert dann noch einige Tage, bis ich wieder ganz entspannt zur Burg hochlaufe, dann weiter bis nach Seeheim und zurück nach Malchen.

Frühmorgendliches Joggen ist letztlich doch der beste Start in den Tag.

Wohnungssuche

Als den Gesellschaftern und mir klar ist, dass ich die Hochschule wohl erfolgreich nach vorne bringen werde, wird es Zeit, mein Übergangswohnheim in Malchen zu verlassen. Mein neues Zuhause soll verkehrstechnisch günstig liegen, mindestens 80 m² und einen Balkon haben. Die Maklerin ist optimistisch.
Das erste Objekt verlasse ich nach Luft ringend im Schweinsgalopp. Die Vormieter waren Katzenliebhaber, und ich bin Allergiker.
Dann wird es nobel. Eine Villa mit wunderschönem Garten, Swimmingpool von halbolympischen Ausmaßen, Garagen. Das ältliche Eigentümerpaar wünscht sich einen seriösen und solventen Langfristmieter, der ihnen auch bei der Gartenarbeit zur Hand geht. Nein Danke.
Endlich lande ich in Weiterstadt bei Handwerksmeister Helmut und seiner rumänischen Frau Helene. Hier werde ich die folgenden 22 Jahre mein Domizil haben.

Weiterstadt

Weiterstadt? Da klingelt was bei mir. Ja, der Sprengstoffanschlag der RAF im März 1993 auf den gerade fertiggestellten Knast. Die Zellen noch leer. Die JVA noch nicht offiziell eingeweiht. Keine Verletzten oder gar Toten. Ein großes Schild an der Zufahrt: „Knastsprengung in Kürze. SOFORT WEGRENNEN.“

Aber was hat Weiterstadt mit seinen rd. 25.000 Einwohnern sonst noch zu bieten?
Ich bummle am Sonntagnachmittag durch das Städtchen. Viele Häuser verdunkelt. Leben die hier noch im Krieg? Metallisch glänzende Gartenzäune gleicher Art an fast jedem zweiten Haus. Sammelbestellung? Tage später sehe ich auch zahlreiche Wohnungen mit Holzpaneldecken gleicher dunkelbrauner Farbe. Auch hier Sammelbestellungen? Man sagt ja, dass Menschen in Dörfern und Kleinstädten zur Sparsamkeit neigen. Vielleicht auch hier. Immerhin gehört der Ort zu den wenigen schuldenfreien in Deutschland.

Skoda, Evonik, Degussa und Wella tummeln sich in Weiterstadt. Der Möbelgigant Segmüller sorgt seit 2004 zur Weihnachtszeit für Verkehrschaos auf der A5 und den umliegenden Zubringerstraßen. Der Media Markt war bis 2007 der größte in Europa. Das Einkaufszentrum LOOP 5, der nahe gelegene Frankfurter Flughafen lässt grüßen, lockt seit 2009 mit ganz besonderen Spiegeln auf den Herrenklos, Damen in Reizwäsche, was auch immer damit erreicht werden soll. Bei den Damentoiletten sind es entsprechend gekleidete Herren. Doch reicht das offensichtlich nicht, um die Umsätze anzukurbeln und dem Leerstand Einhalt zu gebieten.

1977 startet hier ein „Open Air Filmfestival“, das sich im Laufe der Jahre zum Eldorado für Super 8 Filme mausert. Nicht zu vergessen Bauer Lipp: Spargelzeit ist Feierzeit. Busladungen aus ganz Deutschland und aus Holland spucken dann fast täglich viele hundert Besucher zum Spargelfest aus. Bierzelt, Livemusik, Kinderspaß etc. etc.

Die Wohnung

Die angebotene Wohnung gefällt mir auf den ersten Blick. Helmut und Helene hatten das Doppelhaus in den 70ern in Eigenleistung mit Unterstützung einiger Nachbarn gebaut und leben seitdem im Erdgeschoss des Hinterhauses. Ich bekomme die Wohnung über ihnen. Drei fast gleichgroße Räume mit jeweils etwa 25 m², helles Tageslichtbad mit Dusche und Wanne, großer Flur mit Einbauschränken. In der Küche Kühl- und Gefrierschrank, Spülmaschine und zahlreiche Schränke, alles glänzend blau verkleidet. Und dazu ein großer Balkon. Lediglich ein leichter Geruch nach Fäulnis, gar Verwesung? stört mich (aber, wer weiß schon, wie Verwesung riecht). „Das kommt noch von den Vormietern. Wir tapezieren die Wohnung und desinfizieren zur Vorsicht auch alle Räume,“ verspricht Helmut. „Ist hier jemand gestorben?“. „Nein, nein. Die Vormieter hatten Tiere, die wir nicht genehmigt hatten. Wir haben ihnen daher gekündigt.“

Die (Vor-)Mieter

Meine Vormieterinnen sind die beiden Töchter von Helmut und Helene, die knapp 18jährige Yvonne und ihre etwa 5 Jahre ältere Schwester Petra. Helmut hatte sie kurzerhand rausgeschmissen als sie anfingen, ihren kleinen Privatzoo mit verschiedenen Käfigviechern auch noch um Schlangen zu ergänzen, für deren Versorgung Ratten und Mäuse angeschafft worden waren. Daher der Geruch.
Petra verschlug es dann Richtung Köln. Yvonne durfte im Vorderhaus das Dachgeschoss belegen, musste sich aber von den Schlangen, Mäusen und Ratten trennen. Das Dachgeschoss war gerade passend frei geworden, weil der dort lebende FAZ-Journalist mit seinen Protesten gegen seinen zu kleinen und gegen Regen zu wenig geschützten Briefkasten keinen Erfolg bei Helmut hatte.

Auch ich komme in den Genuss dieses Mangels.

Zwei Tage nicht vor Ort. Es regnet. Du kannst Deine Post auf die Wäscheleine hängen, sofern das überhaupt noch geht.
Jeder Änderungswunsch und jede Beschwerde wird in den folgenden 22 Jahren auf taube Ohren treffen.

Über mir in der Dachwohnung gibt es ein weibliches Wesen, das ich nie zu Gesicht bekomme, dafür aber umso deutlicher hören kann. Ihre eindeutigen Laute begleiten mich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit. Sie hat bei meinem Einzug bereits gekündigt und überrascht mich lediglich damit, dass sie meinen kleinen nicht abschließbaren Kellerverschlag bei ihrem Auszug randvoll mit Plüschtieren jeder Art und Größe füllt. Ob rosa Schweinchen oder himmelblauer Mischlingshund, braungrauer Igel, fast mannshoher gelber Teddybär – kein Tier ist so, dass ich es nicht am liebsten gleich vernichtet hätte. Doch das bringe ich nicht übers Herz und verschenke nach und nach die Viecher.

Das Vorderhaus hat außer Yvonne noch zwei Mietparteien: im Erdgeschoss Familie Zörgiebel mit zwei schulpflichtigen Kindern und in der ersten Etage Herrn Trump mit seiner Freundin.

Familie Zörgiebel liegt seit Jahr und Tag mit den Vermietern im Clinch. Angeblich lüften sie nicht ordentlich und sorgen so für Schimmelbefall in ihrer Wohnung und im Keller. „Mit der Miete seid Ihr auch immer wieder im Rückstand“, grantelt Helmut. „Nein“, raunzt Frau Zörgiebel zurück, „wir haben die Mietzahlung reduziert, weil Feuchtigkeit durch die Wände dringt und uns den Schimmel bringt.“ Da springt Helmut wie der Springteufel aus der Box und brüllt, dass es durch die Mauern bis in die Stadt schallt. „Wie blöd seid ihr eigentlich? Ihr stellt die Wände und die Fenster mit Matratzen und Schränken zu. Und ihr lüftet nie. Und dann wundert ihr euch über Feuchtigkeit und Schimmel? Das Zeugs kommt sofort von den Wänden Und die Trockenlegung stelle ich euch in Rechnung.“
Wenige Tage später legen Zörgiebels noch einen drauf. Ich plaudere mit einigen Nachbarn an der Hofeinfahrt. Helmut gesellt sich zu uns. Zörgiebels tauchen auf. „Gut, dass wir Sie hier treffen. Seit einigen Tagen verschwindet ständig Post von uns aus dem Briefkasten. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Was sagen Sie dazu?“
„Wollen Sie etwa behaupten, ich oder meine Familie würden Ihre Post stehlen?“ Nun, genau das scheint der Verdacht zu sein. Helmut ist nur eine Sekunde lang bass erstaunt. Dann schwillt seine Brust noch stärker an, als sein Bauch. Wie ein kampfbereiter Bulle seine Hörner, hebt er seine Fäuste gegen den Feind.

Ich stech Dich ab Du Mistkerl. Ich geh in den Knast. Ich habe Zeit.

Bis dahin hatten wir Nachbarn das Schauspiel nur interessiert beobachtet.; doch jetzt hält es uns nicht mehr auf unserem Beobachtungsposten. Nahezu unisono prusten wir los. Manche Lachträne tropft. Vermehrt Anfeuerungsrufe: „Los Helmut, dann stech ihn doch ab. Aber das traust Du Dich doch sowieso nicht.“ Schließlich verlassen die Streithähne unter Führung ihrer Ehefrauen den Kampfplatz. Zörgiebels mieten sich ein Postfach und halten sich dann noch einige Monate im Haus. Doch Helmuts Dauerbeschimpfung in den folgenden Wochen sind sie letztlich nicht gewachsen und verschwinden.

Anschließend lebt zunächst eine deutsch-italienische Familie mit Kind und Pflegekind in der Wohnung. Schnell spricht sich unter den Nachbarn herum, dass der Mann eine Autowerkstatt betreibt; schon wird er Opfer erwarteter nachbarschaftlicher Schrauberarbeit an Wochenenden. Dann zieht es für wenige Jahre einen Ingenieur mit Frau und Kindern in die Wohnung. Für sie ist das nur eine Übergangssituation während der sie ihr eigenes Haus bauen.

Kündigung Nr. 1 – Tochter Petra

Ganz überraschend erscheint Tochter Petra auf der Bildfläche. Ihr Kölner Verlobter ist passé. Das Heimweh treibt sie zurück zu Mama, Papa und Schwester. Ich erhalte die Kündigung wegen Eigenbedarfs. In der schriftlichen Begründung heißt es:


Petra hat ihren alten Schulfreund im Nachbarort wieder getroffen. Die haben sich sofort ineinander verknallt und wollen ein Kind. Daher benötigen sie Ihre Wohnung.


Kopfschüttelnd mache ich mich auf den kurzen Weg zu meinen Vermietern. Ein herzlicher Empfang. Ich komme nicht einmal dazu, zu widersprechen. Es gibt schon eine andere Lösung. Im Erdgeschoss des Vorderhauses. Der Ingenieur zieht aus und Petra nebst zwei chinesischen Tempelhunden ziehen ein. Schwangerschaft und Freund bleiben draußen. Die Hunde kacken den Garten voll, bellen wie verrückt und machen, was sie wollen. Petra auch. Hat sie heute noch schwarze Haare, sind sie morgen blau und kurz darauf grün oder orange. Die Freunde wechseln mit der Haarfarbe. Nur die Köter bleiben. Dann ist auch Petra eines Tages von heute auf morgen verschwunden. Sie hält es nicht mehr aus, dass Mama einfach ohne Anmeldung zu jeder Tages- und Abendzeit in ihre Wohnung kommt und wohl manche peinliche Situation auslöst.

Und dann knallt es so richtig bei uns im Haus. Die „Zigeuner“ kommen. Aber diese ganz besondere Geschichte erzähle ich zum Schluss.

Herr Trump, Witwer seit mehr als zehn Jahren, wohnt bei meinem Einzug schon seit vielen Jahren in der mittleren Etage des Vorderhauses. Seine neue Freundin wohnt nur einige Straßen weiter. Mal ist sie bei ihm, dann wieder er bei ihr. Alles ganz unauffällig. Zwei- bis dreimal die Woche geht er mit seinem Flaschenhalter zum Getränkeshop und holt sich einige Flaschen Bier und vom Metzger eine ordentliche Portion Wurst. Ab und an kommen erwachsene Kinder zu Besuch. Eigentlich alles eher langweilig.

Kündigung Nr. 2 – Tochter Yvonne

Spannend wird es erst, als ich die zweite Kündigung meiner Vermieter erhalte. Diesmal will Tochter Yvonne in meine Wohnung einziehen. Sie hat sich inzwischen im Keller des Vorderhauses mit einer „Naturheilpraxis zur bunten Yvonne“ eingerichtet. Der Name ist in der Tat Programm. Ein gewaltiges Regenbogenplakat an der weißen Hauswand weist auf ihre vielfältigen Leistungen hin, von Yoga über Fußpflege bis hin zu Reiki.
Jetzt will sie gerne in meine Wohnung ziehen, auch wenn ich doch der liebste Mensch in der Nachbarschaft sei. Merkwürdig, wo ich doch ständig auf Achse bin. Aber vielleicht ist das der Grund für die Sympathiebekundung. Klar, die Dachgeschosswohnung ist an den heißen Sommertagen ein einziger Backofen; aber das kann ja nicht für die Eigenbedarfskündigung reichen. Dort heißt es vielmehr:

Die Dachgeschosswohnung ist für die inzwischen auf vier Personen angewachsene Familie und ihre Tiere zu klein geworden. Deshalb schlagen wir einen Wohnungstausch vor.

Yvonne hatte Michael geheiratet, einen gelassen ruhig wirkenden mit Tunneln und Tätowierungen verzierten schlanken Kerl, der sich hochverschuldet aus einer Kneipenbeteiligung verabschiedet hat, nun im Baumarkt schafft und ein genügsames Leben führt. Glücksmomente bereiten ihm sein Joint und die unzerstörbare Liebe zu den Darmstädter Lilien. Mit Yvonne zeugt er zwei Kinder, Tochter Soi und vier Jahre später Sohn Per. Beide Geburten verlaufen völlig komplikationslos. Soi flutscht bereits nach kurzer Zeit im Wasserbecken in die Welt. Als sich bei Per die Wehen ankündigen, ist Yvonne wohl zu stoned. Michael kümmert sich. Anruf bei der Hebamme. Zählen der Abstände zwischen den Wehen. Im Schweingalopp in die Geburtsklinik. Auch die Hebamme flitzt los. Die Geburt verläuft problemlos. Ob und wie sich die Kifferei allerdings auf den späteren Zustand der Kinder ausgewirkt hat, vermag ich nicht zu sagen. Kaum im Teenageralter ist Soi mehr an Jungs und Kiffen interessiert, als am Lernen. Mama beschwert sich bei mir, dass „die Bullen ihre arme Tochter auf dem Kieker“ hätten und sie wegen jeder Kleinigkeit und sei es auch nur ein Joint, piesakten. Soi fliegt von der Schule und versucht sich gerade als Praktikantin bei Friseur Klier, als Corona alles wieder auf null setzt. Bruder Per quält sich zu der Zeit noch durch die Schule, spricht kaum und wirkt so abwesend, dass nicht nur ich den Gang zum Psychologen empfehle. Den Ausbrüchen seiner Mutter, die ihr Temperament offensichtlich von ihrem Vater geerbt hat, begegnen Per und Ehemann Michael mit stoischer Gelassenheit.
Lediglich Mutter Helene kotzt sich immer wieder bei mir aus, dass Yvonne ihr Geld für teure Tätowierungen verplempere, anstatt es für Schulbücher auszugeben. Selbst Per hätte sich deshalb bei ihr ausgeweint. „Aber wenn ich Yvonne darauf anspreche, reagiert sie nur aggressiv. Ich weiß nicht, was wir bei unseren Kindern falsch gemacht haben.“

Als Yvonnes Versuch, in meine Wohnung einzuziehen, an meinem Widerstand zu scheitern droht, wird Herr Trump Ziel ihres Angriffs. Urplötzlich gibt es nur noch Böses über ihn zu erzählen: der stille Alkoholiker habe sich in einen Kinderfresser verwandelt, der selbst dem Teenager Soi Albträume beschere. Der sich volltrunken auf der Straße mit seiner Freundin prügele. Der besoffen im wahrsten Sinne des Wortes mit der Tür ins Haus gefallen sei. Der in seiner Wohnung randaliere und herumbrülle. Und so weiter und so weiter. Auch er, der seit Jahrzehnten im Hause lebt, verlässt entnervt den Kriegsschauplatz. Wenige Monate später treffe ich seine Freundin. Sie ist ganz aufgelöst und erzählt mir, ihr Freund sei gestorben.

Sein angegriffenes Herz hat die Aufregungen mit dem Vermieter und Yvonne nicht verkraftet. 

Die frisch renovierte Wohnung

Nun aber zurück zu meinem Einzug im September 1998.

Ich komme in die frisch renovierte Wohnung und falle direkt wieder aus der Tür.

Die Tapeten kleben an vielen Stellen nur unwesentlich an den Wänden und drohen, mir direkt in die Arme zu fallen. Der weiße Anstrich ist offensichtlich in dunkler Nacht von einem Blinden oder Volltrunkenen angebracht worden. Nachbessern reicht nicht. Neu tapezieren in Eigenregie. Der für jeden Raum zugesagte Telefonanschluss funktioniert nicht. Der Telekom-Techniker findet mit Mühe und Not einen Anschluss im Schlafzimmer. Telefondrähte liegen nackt und unschuldig im Flurschrank. Das angepriesene Kabelfernsehen? Nur Schnee und Schemen im Hintergrund. Der Techniker entdeckt den Verstärker im Vorderhaus. Sein Kommentar: „Der liefert den ersten Mietern Schnee, weil die Leistung zu hoch ist und den letzten Mietern im Hinterhaus Schnee, weil – Sie ahnen, woran es liegt.“ Helmut ist erbost. „Ihre Techniker haben alle keine Ahnung. Das Bild auf Ihrem Fernseher ist doch absolut in Ordnung.“ Was soll’s, ich bin ja sowieso oft weg. Mein erster Versuch, die Spülmaschine zu benutzen, bringt keinen Erfolg. Das Wasser wird nur lauwarm. Ich gehe duschen. Gar kein warmes Wasser mehr. Irgendwas ist defekt. Der Temperaturregler in der Warmwasseranlage im Keller steht auf null. Temperatur hochgedreht. Fall gelöst. Zumindest vorübergehend. Später stelle ich fest, dass Helmut alles das, was Strom fressen kann, abstellt oder minimiert, sobald er und Helene für mehr als einen Tag nicht im Hause sind. Den Keller mit der Warmwasseranlage schließt er zu. Das Flurlicht brennt nur noch wenige Sekunden. Egal. Ich bin ja gewohnt, Treppen im Dunkeln zu gehen. Die Heizung bleibt kalt. Ich habe ja warme selbstgestrickte Pullover. Das Wasser ebenfalls kalt. Warmduscher sind doch Weicheier.

Ich gewöhne mich an das Fehlen all dieser völlig überschätzten zivilisatorischen Annehmlichkeiten. Bald schon fühle ich mich als eine Art Einsiedler in meiner Behausung, und registriere die Macken gar nicht mehr.

Der nackte Wahnsinn

Im folgenden Frühling locken mich die ersten Sonnenstrahlen auf meinen Balkon. Ich stütze mich auf das Geländer und lasse den Blick über die Nachbargärten und nach unten in den Garten meines Vermieters schweifen. Dort liegt Yvonne. Nackt. Leider nicht, wie Gott sie schuf. Eingriffe von Kopf bis Fuß gestalten ihren Körper neu. Bunte Pflanzenmotive auf Armen und Beinen, Ringe durch Brustwarzen und Unterleib als Zeichen der Auflehnung, des Andersseins? Ich habe keine Ahnung. Heute zieren auch die Ohren große Löcher, hängen die Ohrläppchen fast auf die Schultern, darin große Platten mit Heiligenmotiven, sind Rücken und Brust bunt gestochen.
Dann kommen Papa und Mama dazu, nur knapp bis gar nicht bekleidet, sofern man die dicken Goldketten und Goldreifen nicht als Bekleidung betrachtet. Alle drei braun gebrannt. Mutter und Tochter schlank, Vater mit dickem Bauch. Ich ignoriere die Aufforderung, mich zu ihnen zu gesellen und ziehe mich in meine Hängematte zurück.

Inzwischen war über mir ein junger Mann aus Italien eingezogen. Er fliegt raus, weil er ständig seine Lebensmittelreste unverpackt in unsere Biotonne befördert und damit den Myriaden an Maden leckeres Futter liefert. Danach folgt ein zauberhafter junger Mann, der kleine Kaninchen im Hut verschwinden lassen kann und auch sonst allerhand Tricks beherrscht. Er ist der Sohn eines ortsansässigen Handwerksbetriebes. Er will alles, nur nicht im elterlichen Betrieb zugrunde gehen. Mit einem Freund zusammen hat er einen Sklavenvertrag bei RTL unterschrieben, aus dem er schleunigst aussteigen will. Der Junge fliegt raus, weil Helmut, nach dem Tierchaos mit seinen Töchtern, keine Kaninchentricks im Haus will. Seitdem lebt über mir Selchen, ein lieber Einzelgänger, immer wieder arbeitslos und verschuldet, dadurch aber immer bereit, den Hausbesitzern schwere Arbeit abzunehmen. Zudem schafft er es irgendwie, immer auch sein Mietkonto wieder auszugleichen.

Mich trifft der Schlag

Eines Tages trifft mich der Schlag. Ich hatte gerade mein zehnjähriges Jubiläum in meiner neuen Heimat gefeiert und war zwei Wochen durch die Weltgeschichte gereist. Schon im Flur wundere ich mich über Staub und zahlreiche Trittspuren. Ein Blick ins Wohnzimmer. Mein Rollo hängt schief auf Halbmast. Die gussmarmorne Fensterbank leer, ein Eckstück herausgebrochen. Wo sind meine zahlreichen Orchideen und Sukkulenten? Der Teppich umgeklappt. Alles voller Staub. Ich gehe auf den Balkon und erkenne des Übels Kern. Ich flitze zu Helmut und Helene. Sie strahlen mich an: „Wir haben die Zeit Deiner Abwesenheit genutzt und Deinen Balkon neu gefliest. Das sind jetzt ganz empfindliche Fliesen. Da darfst Du keine Blumen mehr direkt auf den Boden stellen.“ „Und was ist mit meiner Wohnung?“ „Ja, da haben wir die Fliesen solange gelagert. Wir konnten ja schlecht vom Garten aus auf den Balkon.“

Ihr seid also einfach, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, in meine Wohnung eingedrungen, habt dort die Fliesen gelagert und dann den Balkon gefliest. Habt Ihr noch alle Tassen im Schrank?

Helmut und Helene sind konsterniert. „Aber wir haben es Dir doch schön gemacht. Was regst Du Dich denn auf.?“ Ja, warum eigentlich. Bei Helmut und Helene sollte mich doch inzwischen nichts mehr wundern. Einen Teil meiner Pflanzen finde ich dann in einer Ecke unten im Hof; einige sind verschwunden. Das abgebrochene Stück Fensterbank klebe ich wieder an, putze die Bude, schlage den Teppich wieder zurück. Eh voilá, alles ist wieder in bester Ordnung. Außer, dass Helmut, dieser Experte für alles Handwerkliche, am Balkon die Glasscheiben an der Brüstung mit dickem schwarzem Filzstift nummeriert und dann so wieder angebracht hat, dass sie sich von der Rückseite nicht mehr reinigen lassen. Im Laufe der Jahre setzen Sie mehr und mehr Grünspan an und bieten mir aus meiner Hängematte interessante Muster.

Bad Füssing

In den folgenden Jahren verabschieden sich Helmut und Helene nach und nach aus Weiterstadt und ziehen sich in ihr zweites Domizil in Bad Füssing zurück. Für Vorder- und Hinterhaus bedeutet das himmlische Ruhe, unterbrochen nur von den immer selteneren Besuchen der Vermieter. „Bad Füssing ist ein Paradies“, erzählt mir Helmut. „Dort ist die Luft sauber, und Du kriegst ein Dreigänge-Menü für unter zehn Euro. Jeden Abend gibt es ein Kurkonzert. Und Du hast hier keinen Ärger mit Mietern oder blöden Nachbarn. Dem FC Bayern Fan-Club habe ich einen ordentlichen Spendenbetrag zukommen lassen. Jetzt habe ich auch eine Dauerkarte für die Heimspiele der Bayern. Da fahren wir dann immer im Fan Bus hin.

Am liebsten würde ich das Haus in Weiterstadt verkaufen und mich dort nie wieder blicken lassen.

Eines Abends klopft jemand energisch an meine Wohnungstür. Ich strampele gerade auf meinem Crosstrainer und lasse mich nur ungern stören. Aber dann gehe ich doch nachsehen. Helene steht vor der Tür und bittet mich zu sich nach unten. „Wir ziehen weg. Die neuen Mieter sind schon unten. Komm kurz runter, dann kannst Du die auch schon kennen lernen.“ Ich schnappe mir ein Handtuch, wische mir den Schweiß vom Kopf und trotte nach unten. Ein mürrisch dreinschauender Herr um die 60 und eine mürrischer dreinschauende Frau etwa gleichen Alters murmeln Unverständliches in den fehlenden Bart. Ich sage „Herzlich willkommen“ und stiefele kopfschüttelnd wieder nach oben zu meinem Crossi.

Die Wohngemeinschaft der RauchMachers

Die Wohn-, aber wie sie später ausdrücklich betonen, nicht Lebensgemeinschaft, Herr Rauch und Frau Macher, zieht kurz drauf in die Wohnung von Helmut und Helene. Viele Wochen später erklärt mir Frau Macher, sie liege im Scheidungsstreit mit ihrem Mann. Würde ihre Beziehung als Lebensgemeinschaft angesehen, hätte sie Nachteile bei der Verteilung des Besitzes.

Ich speichere das Paar von Anfang an als „Die RauchMacher“. Schon vom ersten Tag an beginnen sie, unser Hinterhaus aufmischen zu wollen: Kaum sind sie eingezogen, schon hängt ein Reinigungsplan für das Treppenhaus am Hauseingang. Selchen und ich ignorieren ihn. RauchMachers tragen sich einige Monate brav ein, schmeißen dann aber den nutzlosen Zettel fort. Ich schüttele meinen Staubwedel in gewohnter Weise über dem Balkongeländer und dem Garten aus. Postwendend liegt ein kleines durchsichtiges Plastiktütchen vor meiner Tür mit einigen Staubflocken darin. Ich muss lachen. Dann finden sie einen kleinen Schnipsel Papier im Treppenhaus, der wohl Selchen oder mir heruntergefallen war. Er wird mit Tesa an die Haustüre geklebt. Wir lassen ihn kleben. Eines Tages ist er verschwunden. Helene hatte vor Jahren ein Schild an die Haustüre gepappt: „Türe bitte fest schließen.“ RauchMachers ergänzen mit einer Schrift, die der Helenes ähnlich ist, „und ab 20 Uhr abschließen.“ Wir kümmern uns nicht drum.

Zunächst wundere ich mich, dass RauchMachers mich oder Selchen nicht ansprechen. Ihre Antwort auf mein freundliches „Hallo“ besteht aus kaum mehr als einem leisen Röcheln. Da sie auch niemandem aus der Nachbarschaft mehr gönnen, als ein Knurren, vermute ich eine Sprachbehinderung. Aber dann, rd. zwei Wochen nach ihrem Einzug, geschieht das Wunder: sie können sprechen. Und frag nicht wie. Sie stoppen mich im Hausflur und pfeffern eine Breitseite nach der nächsten gegen den unmöglichen Vermieter ab. Wollen wissen, wie lang meine Mängelliste sei. Ihre umfasse bereits 47 Punkte und werde von Tag zu Tag länger. Wir müssten uns unbedingt zusammenschließen und gegen Helmut vorgehen.

So einen unverschämten und verlogenen Vermieter haben wir noch nie erlebt. Wenn wir das gewusst hätten, wären wir hier nie eingezogen. Und die Yvonne gehört doch in die Klapse. Die ist ja schlimmer als die Eltern.

Es hört einfach nicht auf. Ich komme nicht einmal dazu, ihnen den umgehenden Auszug zu empfehlen. Ich murmele eine Entschuldigung. Drehe mich um. Gehe nach oben in meine Wohnung. Schließe die Türe. Lausche den so treffenden Songs von Randy Newman über die Rednecks in den USA auf seiner grandiosen LP Good Old Boys.

Im Kampf gegen die „Zigeuner“ solidarisieren sich auch die RauchMacher mit Nachbarn und können stundenlang lauthals über das „Dreckspack“ herziehen. Als sie von meinem bevorstehenden Umzug hören, gibt es ein Heulen und Zähneknirschen, dass mir die Ohren klingeln. „Wir können ja verstehen, dass Sie von diesen Vermietern wegwollen. Aber was soll dann aus uns werden? Sie sind so ein ruhiger Mieter. Wen werden die jetzt wohl über uns einziehen lassen. Das wird doch fürchterlich für uns.“ Und dann überbringen sie mir zum Abschied eine Blume und eine Grußkarte. Wahre Nachbarn.  

Die „Zigeuner“

Ja, ja, die „Zigeuner“. Helmut schließt doch tatsächlich einen Mietvertrag mit Angehörigen des Familienbundes Kwiek-Goman, mit Romnja. Wie kann er nur, auch noch gegen den Willen seiner Frau und seiner Tochter. Weiß er denn gar nicht, welche Brut er sich da ins Haus holt? Auch noch den Goman-Clan aus Leverkusen, Dauergast in den Berichterstattungen über kriminelle Clans. Kein Wunder, dass sich die Nachricht über die neuen Mieter wie ein Lauffeuer in der Nachbarschaft verbreitet. „Na, das kann ja lustig werden.“ „Dann müssen wir jetzt wohl unsere Fenster und Türen nachts geschlossen halten.“ „Die Kinder können nicht mehr unbeaufsichtigt auf der Straße spielen.“ Und dann gibt es auch noch den großen Kindergarten, nur wenige Schritte vom Haus entfernt. „Die müssen sich jetzt mindestens durch einen hohen Zaun schützen.“ Niemand kennt die Familie. Lediglich die Zuschreibung Rom*nja oder „Zigeuner“ wie es von Anfang an im Haus und in der Nachbarschaft heißt, genügt, um der Familie den Stempel allen Übels aufzudrücken: Sozialbetrug, Bettelei, Promiskuität, Vernachlässigung von Kindern, Alkohol und andere Drogen, Kriminalität, Prostitution, Zerstörung fremden Eigentums. Jeder weiß, was das für schlimme Finger sind, kennt schaurige Geschichten.

Hier ein wenig Nachhilfe: Seit mehr als sechs Jahrhunderten leben Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland mit dem Stigma „Zigeuner“ und allem Schlechten, das diesem Begriff anhaftet. Der Bundesgerichtshof, auch nach der Befreiung vom Faschismus durchsetzt mit Nazirichtern, schreibt 1956 in einem Urteil über „Zigeuner“:

Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.

Da verwundert das Ergebnis einer Expertise der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2014 über „Bevölkerungseinstellungen zu Sinti und Roma“ nicht:

Bei keiner anderen Gruppe zeigt sich ein so durchgängig deutliches Bild der Ablehnung.

In Hessen wurden Sinti*zze und Rom*nja erst 2017 in einem Staatsvertrag als schützenswerte Minderheit anerkannt. Auch in anderen Bundesländern, etwa NRW und Baden-Württemberg, gibt es solche Verträge.

Was ist das für ein Land, in dem Minderheiten eigens in Verträgen als schützenswert eingetragen werden müssen. Und was ändert das Papier am tatsächlichen Verhalten der Menschen gegenüber diesen Minderheiten?

Im Baden-Württembergischen Erbach stehen 2020 fünf Männer vor Gericht. Ihnen wird schwere Brandstiftung und Mordversuch vorgeworfen. Sie hatten eine anreisende Gruppe von etwa 30 Rom*nja mit dem Schild „Not welcome“ und „(Erbach) bleibt deutsch“ begrüßt. Männer, die sich als „Patrioten“ bezeichnen, Böller und einen toten Schwan auf die Wiese werfen, auf der die wenigen Wohnwagen der Rom*nja stehen. Später werfen sie eine brennende Fackel auf einen Wohnwagen, in dem eine Mutter mit ihrem Kleinkind schläft. Die Fackel verfehlt ihr Ziel nur ganz knapp. Dabei rufen sie antiziganistische Parolen. Die Donau Crew, rechte Hooligans des SSV Ulm, freundschaftlich verbunden u. a. mit der Bürgerwehr Augsburg, solidarisieren sich mit den Tätern, und auch bei Erbacher Bürgern gibt es Sympathien für sie.

Was erwarten wir von Menschen, die seit Generationen nichts anderes kennen, als geächtet und verachtet zu sein? Was würde mit uns passieren?

Meinen Banknachbarn Rainer hat unser Englischlehrer am Gymnasium jeden Morgen mit dem Ritual begrüßt: „Rainer, bist Du immer noch hier? Das Gymnasium ist doch nichts für Dich. Geh doch zur Realschule. Da bist Du richtig.“ Und nach wenigen Monaten war er verschwunden. Wie lange reichen unsere inneren Abwehrkräfte gegen die Dauerbeschallung als zu dumm, zu faul, kriminell, nicht erwünscht etc., bis wir die zugeschriebene Verhaltensweise tatsächlich annehmen, letztlich also erwartungsgemäß, vielleicht sogar wunschgemäß, handeln?

Die „Bestätigung des Bösen“

Alles das, was Kwiek-Goman machen, ist für die Nachbarn eine Bestätigung des Bösen, das „Zigeunern“ angeblich innewohnt. Lautes Geschrei nachts gegen zwei Uhr. Porzellan geht zu Bruch. Am folgenden Tag spreche ich mit Ihnen und frage, was los war. Sie entschuldigen sich für den nächtlichen Krach. Der Alkohol sei schuld. Der jüngere Sohn, den ich auf gute zwanzig Lenze schätze, habe den Schnaps nicht vertragen und dann randaliert. Er hatte wieder eine Absage auf eine Stellenbewerbung erhalten und war total frustriert.

Ich versuche seit Monaten, einen Job zu kriegen. Ich mache jede Arbeit. Ich bin ein guter Handwerker, arbeite auch bei der Müllabfuhr. Aber keiner will mich.
Seine Mutter ergänzt:
Wir alle hier tragen den Stempel ‚Zigeuner‘ auf der Stirn. Und damit bist Du bereits als kriminell abgestempelt, und keiner will dich haben.

Einige Wochen später höre ich am frühen Sonntagnachmittag die Hilferufe der Mutter von ihrer Terrasse. Es klingt wirklich übel. Ich gehe ans Schlafzimmerfenster und sehe sie ziemlich heftig blutend nach Hilfe rufen. Also eile ich rüber und klingele Sturm. Die Tochter öffnet und bittet mich rein, um für Ruhe zu sorgen. Drinnen sieht es übel aus. Etliche Schnaps- und Bierflaschen am Boden. Umgeworfene Stühle. Und mitten dazwischen der Sohn und die Mutter, er mit dem Messer in der Hand, sie mit einer tiefen Schnittwunde im Arm. Die Tochter drückt mir gleich Verbandmaterial in die Hand und bleibt dann in sicherer Entfernung stehen. Offensichtlich werde ich hier als Autorität anerkannt. Aus welchem Grund auch immer. Ein Blick reicht, der Sohn legt das Messer weg und verschwindet im Nebenzimmer. Ich verbinde die Mutter und schlage einen Besuch im Krankenhaus vor. Sie schüttelt den Kopf und erzählt abermals die Geschichte vom Alkohol. Dann gehe ich zum Sohn, der wie ein Kind mit schlechtem Gewissen mit gesenktem Kopf vor mir steht. Er verspricht Besserung. Na ja, junge Leute versprechen schnell alles, was unsereins hören will, nur, damit wir Ruhe geben.

Am folgenden Wochenende wird er von seinem älteren Bruder, der aus Süddeutschland angereist ist, wegen seiner Respektlosigkeit gegenüber der Mutter verprügelt. Anschließend fährt der große Bruder nach Frankfurt. Kommt in tiefer Nacht zurück. Schafft es gerade noch, den Motor auszustellen, bevor sein Kopf auf das Lenkrad knallt und die Hupe auf Dauerton bringt. Mit vereinten Kräften hieven Familienmitglieder den Suffkopp aus dem Auto und karren ihn in die Wohnung.

Was davon ist denn so anders, als in vielen deutschen Familien? Wer ruft gleich „Dreckspack“, wenn es nachts mal laut wird? Wie oft werden Frauen von ihren liebenden deutschen Männern verprügelt? Gehen mit blauem Auge durch die Straßen? Wen kümmerts? Vielleicht reden wir hinter vorgehaltener Hand, dass Frau X ihren Mann aber auch immer wieder provoziere und selber schuld sei an ihrem blauen Auge. Nur einmal hatte ich während der Zeit des Oktoberfestes in München zu tun. Mein morgentlicher Begleiter war der Gestank von Kotze, Urin und mehr in Hauseingängen und auf Bürgersteigen. Die weiblichen Bedienungen auf dem Fest tragen Radlerhosen unter ihren Dirndln, weil die Besoffenen ihnen ständig zwischen die Beine greifen. Alles zwar nicht so schön, aber noch lange kein Grund, dass auch nur irgendwer auf die Idee käme, solche Festivitäten zu verbieten. Aber das sind ja auch alles keine „Zigeuner“.

Die Familie Goman-Kwiek lebt von Hartz IV. Die etwa zwanzigjährige Tochter, selber Mutter eines Säuglings, jobbt zusätzlich als Putzfrau in Frankfurt, offensichtlich schwarz. Der jüngere Sohn bringt auch ab und an Geld nach Hause. Woher? Ich weiß es nicht. Doch anscheinend reicht das Geld nicht, die Miete regelmäßig zu zahlen. Um der Gefahr einer Kündigung wegen fehlender Mietzahlung zu entgehen und um Helmut sanfter zu stimmen, wird mit dem Jobcenter vereinbart, dass die Miete künftig direkt auf Helmuts Konto geht.
Doch noch stehen einige Altschulden auf Helmuts Forderungskatalog. Als sich keine Entspannung zeigt, kriegt Helmut mal wieder seinen Koller und will der Tochter an die Gurgel. Mit vereinten Kräften halten Helene und Yvonne den Rasenden davon ab, die Treppe herunterzustürzen und der jungen Frau den Garaus zu machen.

Für manche Nachbarn wird der Tatort „Zigeuner“ zu einem faszinierenden Schauspiel. Sie treffen sich auf der Straße, schauen vom eigenen Balkon oder aus dem Nachbargarten zu und geben lautstark ihren Senf dazu. Es fehlt nur noch der Grill und das Fass Bier für unterhaltsame Abende. Manches Gebrüll gegen die „Zigeuner“ hört sich nicht anders an, als das in Erbach. Und wer weiß, was passiert wäre, hätte die Familie nicht im Hause von Helmut und Helene gewohnt, sondern im Wohnwagen am Stadtrand? Auch Per, der Schweigsame, brüllt mit seinen acht, neun Jahren gegen die „Zigeuner.“

Entnervt bieten sie Helmut an, wieder auszuziehen. Als Gegenleistung soll er die Kosten für den erst kürzlich erfolgten Umzug nach Weiterstadt erstatten. Selbstverständlich erfolglos. Wenige Monate später sind sie tatsächlich wieder fort. Doch auch an ihrem neuen Ort können sie sich nicht lange halten. Dann geht es weiter nach Leverkusen in die Gemeinschaft des Goman-Clans. Die weitere Entwicklung lässt sich vorhersagen.


Aber zu dieser Zeit habe ich bereits mein „trautes Heim“ verlassen und bin in meine ruhige Berliner Welt gezogen.

Damit es mir nicht zu ruhig wird, höre ich mir Les Fleurs du Mal von Baudelaires an, beeindruckend interpretiert von Christian Brückner.